- Politik
- Olga Benario
»Wenn andere zum Verräter geworden sind, ich werde es jedenfalls nicht«
Im Gespräch mit Anita Prestes: Die 86-jährige Kommunistin lüftet das Geheimnis der Gestapo-Akte ihrer Mutter Olga Benario
Ihre Mutter, Olga Benario, zierte in der DDR Briefmarken und war eine der bekanntesten Widerstandskämpferinnen gegen die Nazis. Inzwischen gerät sie in Vergessenheit. Wie ist es in Brasilien um sie bestellt?
In Brasilien erfolgte die Erinnerung an sie in Wellen. Ihr Widerstand gegen den Faschismus als auch ihre Ermordung durch die Nazis trugen zu ihrer Berühmtheit ebenso bei wie die Tatsache, dass sie die Frau und Mitstreiterin des »großen« kommunistischen Anführers Luiz Carlos Prestes, meines Vaters, war. Erneutes Interesse riefen ihre Biografie von Fernando Morais 1985 und ein Film über sie von 2004 hervor.
Brasilien lieferte Ihre Mutter aus Sympathie für Hitler 1936 an Nazi-Deutschland aus. Da war sie bereits mit Ihnen schwanger.
Ich kam 1936 im früheren Berliner Frauengefängnis in der Barnimstraße zur Welt und wurde von meiner Mutter getrennt, als ich 14 Monate alt war. Ich sah sie nie wieder. Mein Vater befand sich in brasilianischer Haft, nachdem der Umsturzversuch gegen den Diktator Getúlio Vargas gescheitert war, an dem meine Eltern beteiligt waren. Vargas regierte in Brasilien von 1930 bis 1945 und nochmal von 1950 bis 1954 und sympathisierte offen mit dem europäischen Faschismus. Mein Vater, Luís Carlos Prestes, damals Führer der Kommunistischen Partei Brasiliens, war sich sicher, dass Vargas persönlich für die Auslieferung meiner Mutter verantwortlich war. Vargas wollte sich für den Umsturzversuch an meinem Vater rächen.
Wie entkamen Sie?
Den Nazis passte es gar nicht, dass ich geboren wurde. Das geht aus der Gestapo-Akte meiner Mutter hervor. Der Fall meiner Mutter erregte damals relativ viel internationale Aufmerksamkeit, weswegen mir als Baby kein Haar gekrümmt werden sollte. Das Nazi-Regime wollte mich unversehrt loswerden, während es meine Mutter folterte. Meine jüdische Großmutter in München wollte mich jedoch als Tochter einer Kommunistin nicht aufnehmen. Daher wuchs ich bei meiner Großmutter und Tante väterlicherseits auf. Mein Vater war ja ebenfalls in Haft.
Für Ihre nun auf Deutsch veröffentlichte »biografische Annäherung« an Ihre Mutter haben Sie die Gestapo-Akte Ihrer Mutter ausgewertet.
Dieses Gestapo-Archiv wurde erst 2015 der Öffentlichkeit online zugänglich gemacht. Bis dahin war es in Russland unter Verschluss gewesen. Das Gestapo-Archiv umfasst Millionen Dokumente. Die Akte »Olga Benario« macht da nur einen kleinen Teil aus, ist mit rund 2000 Seiten jedoch eine der größten Akten zu einer einzelnen Person. Ich organisierte eine Gruppe von sechs Übersetzer*innen, die mir die Auswertung der Dokumente ermöglichten. Die Auswertung war keine rein persönliche Geschichte. Darum schreibe ich von mir nur in dritter Person.
Vor Ihrem Buch gab es bereits zwei Bücher, die sich dem Leben von Olga Benario widmeten. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie in ihrem Buch veröffentlicht?
Ich erfuhr zum ersten Mal den Grund, warum die Gestapo sie nicht freiließ. Sie wollte einfach nicht reden. Sie war nicht bereit, jemanden für ihre Freiheit zu verraten. Die internationale Solidaritätskampagne »Prestes« hatte erreicht, dass sich Mexiko, Großbritannien und die Sowjetunion bereit erklärten, sie aufzunehmen. Während sie im KZ Ravensbrück verhört wurde, wartete in Hamburg ein Visum, mit dem sie ausreisen konnte. Das Ticket für die Überfahrt nach Mexiko war bereits gekauft.
Was lief dann schief?
Solange sie keine Namen von ihren Genoss*innen nannte, ließen die Nazis sie nicht frei. Das war ein Auftrag von ganz oben. Die Dokumente belegen eindeutig, wie oft sie in der Berliner Gestapo-Zentrale in einer Einzelzelle saß und die SS sie über Monate verhörte. Warum ihre Genoss*innen freikamen, sie aber nicht, war bis 2015 ein Rätsel. Offensichtlich widerstand sie allen Drohungen der Gestapo und nahm auch ihren Tod in Kauf. Viele Akten aus den Verhören zitieren sie mit dem Satz: »Wenn andere zum Verräter geworden sind, ich werde es jedenfalls nicht.«
Schrieb sie nicht auch in ihren Briefen, warum sie nicht freikam?
Die Zensur verhinderte das größtenteils. Einiges kam durch, etliche Briefe aber auch nicht. Selbst den Brief an meinen Vater, in dem sie über meine Geburt berichtete sowie Angaben zu meinem Gewicht oder meiner Augenfarbe machte, hielten die Nazis anfangs zurück. Über Politisches oder ihre Widerstandsstrategien konnte sie ohnehin gar nichts schreiben. Dabei war meine Mutter wohl eine sehr gute Erzählerin und tischte der Gestapo immer wieder erfundene Geschichten auf. Sie war mutig und fantasievoll zugleich. Ich habe einige Verhörprotokolle im Buch veröffentlicht, weil man es sonst nicht glauben würde. Doch ihre Freilassung wurde immer unwahrscheinlicher.
Auch weil sie Jüdin war?
Das schien für die Nazis in diesem Fall sogar nebensächlich gewesen zu sein. Aus den Akten spricht vor allem der enorme antikommunistische Hass der Nazis. Sie sahen in ihr eine »fanatische« Kommunistin und Frau eines kommunistischen Anführers, die entsprechend zu bestrafen war.
Frau Prestes, Sie selbst wurden Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens und kämpften dort unter anderem gegen den VW-Konzern.
Ich engagierte mich Anfang der 1950er Jahre zunächst im Kommunistischen Jugendverband und dann später in der Studierendenbewegung. Da organisierte ich Streiks und betrieb politische Bildungsarbeit im VW-Werk in São Paulo, um Arbeiter*innen zu gewinnen. Der Konzern verriet aber Oppositionelle an das Militärregime, das sich 1964 an die Macht geputscht hatte und bis 1985 bestand. Ich musste wegen meiner Aktivitäten daher in den Untergrund und wurde in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
Moskau war dann der letzte Ausweg?
Ja, Ende der 40er Jahre stieg die Repression gegen Kommunist*innen in Brasilien an. Mein Vater verlor sein Mandat als Senator und musste in den Untergrund. Als Tochter des Chefs der Kommunistischen Partei fürchtete man, ich könnte – wie andere auch – entführt werden. Also schickte man mich mit zwölf Jahren mit meiner Tante nach Moskau.
Sie konnten aber zurück nach Brasilien und beendeten 1964 ihr Chemiestudium in Rio de Janeiro. Sie wollten dann beim staatlichen Erdölkonzern Petrobas arbeiten. Dazu kam es aber nicht. Wieso?
Just in dem Jahr, als ich mein Studium abschloss, kam es zum Militärputsch und zahlreiche Linke wurden entlassen. Als Tochter von Prestes und selbst kommunistische Aktivistin hatte ich nicht ansatzweise die Chance, irgendwo eingestellt zu werden. Wegen meiner politischen Arbeit musste ich 1969 in den Untergrund. Doch für ein klandestines Leben war ich zu bekannt und fürchtete, wie andere Parteiführer entführt zu werden und zu »verschwinden«. Daher flüchtete ich 1970 zum zweiten Mal nach Moskau.
Die brasilianische Bundesrichterin, Cármen Lúcia, schlug im August 2022 vor, Ihre Mutter offiziell zu begnadigen und sich für die Auslieferung an Nazi-Deutschland zu entschuldigen.
Als der Oberste Gerichtshof 1936 der Auslieferung meiner Mutter zustimmte, verstießen die Bundesrichter mehrfach gegen ihre eigenen Gesetze. Sie ließen meine Mutter nicht zur Anhörung zu und lieferten eine Frau aus, die mit einem Kind schwanger war, das brasilianische Staatsbürgerin sein würde. Aber Vargas hatte das Kriegsrecht erlassen und die Richter folgten ihm. Ich glaube aber nicht, dass sich der Gerichtshof entschuldigen wird.
Warum nicht?
In Brasilien wurden Folterer und Diktatoren nie bestraft. Bei jedem politischen Wechsel blieb die Macht in den Händen derselben ökonomischen und politischen Eliten. Auch am Ende der Militärdiktatur handelten die Militärs ihre eigene Straffreiheit aus.
Hatten Sie die Wahl eines Präsidenten kommen sehen, der die Regierung wieder mit Militärs besetzt?
Ich hatte 2019 die Wahl von Jair Bolsonaro zum brasilianischen Präsidenten nicht kommen sehen und war sehr alarmiert. Die Militärs hatten auf Bolsonaro gesetzt. Die Generäle betrieben Wahlkampf in den Kasernen und in der Öffentlichkeit und drohten dem Obersten Gericht, damit dieses den linken und sehr einflussreichen Kandidaten Luiz Inácio Lula da Silva in Haft behielt. Das ebnete Bolsonaro den Weg.
Das Kapitel Bolsonaro scheint nun jedoch vorbei zu sein.
Die meisten von Bolsonaros Wähler*innen haben in den vergangenen vier Jahren verstanden, dass er nicht die Lösung ist. Dennoch halten 30 Prozent nach wie vor zu ihm. Die leben in einer eigenen Realität, sodass man mit ihnen kaum diskutieren kann. Daran haben auch die sozialen Medien einen hohen Anteil. Die Rechten haben früher als die Linken damit begonnen, ihre Präsenz im Internet auszubauen, um dort Politik zu betreiben. Rechte Parteien erhalten aber auch stets mehr Spenden. Die linken Parteien haben in den letzten Jahren an Online-Präsenz nachgeholt, aber noch nicht aufgeholt. Generell fehlt der brasilianischen Linken eine breite Basis.
Die brasilianische Linke stellt doch gerade die Regierung.
Ich befürchte aber, dass die extreme Rechte bei der nächsten Wahl in drei Jahren zurück sein wird. Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich Bolsonaro, ein ihm nahestehender Politiker oder gar einer seiner Söhne durchsetzt und in die Stichwahl kommt. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat enorme Probleme und macht derzeit viele Zugeständnisse. Während im Parlament die Rechte mit ihrer Mehrheit Druck auf ihn ausübt und ihm wenig Spielräume lässt, fehlen ihm die Unterstützung der Straße, einer organisierten Arbeiterschaft oder der sozialen Bewegungen. Und die Gewerkschaften sind nicht erst seit Bolsonaro schwach. Der Befreiungstheologe Frei Betto meinte kürzlich, dass Politik wie ein Schnellkochtopf nur unter Druck funktioniert. Leider kann die brasilianische Linke derzeit nicht viel Druck entwickeln.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.