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Jürgen Grässlin: Ein »fairer Typ«

Rüstungsgegner und Friedensaktivist Jürgen Grässlin schreibt mit »Einschüchtern zwecklos« seine Autobiografie

  • Daniel Lücking
  • Lesedauer: 4 Min.

Das wohl einzige Argument für die Wehrpflicht ist überraschenderweise die Lebensgeschichte eines Friedensaktivisten. Schließlich war es die Wehrpflicht, die im Jahr 1977 den jungen Studenten Jürgen Grässlin für eine kurze Zeit in die Armee zwang. Grässlin, der den Grundwehrdienst abbrach, sieht das auch selbst so. »Dank der Bundeswehr wurde ich Pazifist. Wenige Wochen später war ich wieder ein freier Mann und konnte voller Freude mein Lehramtsstudium fortsetzen«, schreibt Grässlin auf Nachfrage. Die Bundeswehr schuf so einen mächtigen Widersacher. Nicht gegen die Armee oder den Krieg allein, sondern gegen die Wurzel des Krieges: die Waffen- und Rüstungsindustrie.

Zwang und Wehrpflicht sind natürlich nicht zu befürworten. Die Lektüre von Grässlins Autobiografie »Einschüchtern zwecklos« wirft allerdings die Frage auf, wie viel oder wie wenig wir über die Waffen- und Rüstungsindustrie eigentlich wissen würden, wäre Grässlin, 1957 in Lörrach geboren, damals nicht eingezogen worden. Das Buch ist die ganz persönliche Geschichte seines Wirkens, ohne jedoch sich selbst zum Helden des eigenen Handelns zu stilisieren.

Die Biografie liest sich in Teilen wie ein Wirtschaftskrimi der Neuzeit. Es fallen Stichworte wie Hacken und Whistleblowern. Hacking – im positiven Sinn des Begreifens und dem Beeinflussen bestehender Systeme – betrieb Grässlin unter anderem im Zusammenwirken mit dem Dachverband Kritischer Aktionärinnen und Aktionäre. Über den Kauf einzelner Aktien verschafften sie sich Zugang zu Aktionärsversammlungen und nutzten dann ihr Rederecht, um den Unternehmenskurs in Sachen Rüstungsgüter zu hinterfragen.

Zum Wirtschaftskrimi gereicht auch der Teil, in dem Grässlin die über elf Jahre andauernden Aktivitäten beschreibt, die eine Strafanzeige gegen den Waffenhersteller Heckler & Koch nach sich zogen. Grässlins Akribie bei der Sammlung von Fakten überzeugte nicht nur die Richter, sondern auch Whistleblower, die Hinweise zu den Abläufen von Rüstungsgeschäften und den Praktiken der Unternehmen preisgaben. Überzeugen kann er auch seine Gegner. Und sei es nur davon, dass er ernstzunehmen ist.

Den Treffen mit dem damaligen Daimler-Chef Jürgen E. Schrempp, über den er eine unautorisierte Biografie verfasste, gewinnt er auf menschlicher Ebene etwas Positives ab. Wohlfühl-Lektüre ist »Einschüchtern zwecklos« aber erwartbar nicht. Die Haltung, mit der Grässlin, der heute Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) ist, Menschen begegnet, ist in mehrerer Hinsicht offen. Zunächst, weil er selbst einem eindeutigen Gegner Raum gibt. So viel Raum, dass Grässlin Kritik aus den eigenen Reihen hinnahm und sich mit ebenjener Schrempp-Biografie zwischen alle Stühle setzte. Auch, dass beim Daimler-Chef keine Begeisterung aufkam, überrascht nicht. Wohl aber, dass der damalige Pressechef des Unternehmens, Christoph Walther, bescheinigt, Grässlin habe mit der Biografie keine Verärgerung hervorgerufen: »Er ist ein fairer Typ.« Die Fairness zahlte sich aus, denn die Biografie »Der Herr der Sterne« wurde zum Bestsellertitel. Weltweit.

Die Aufarbeitung seines politischen Lebens ist auch 45 Jahre nach Grässlins Wehrdienstzeit hochaktuell. Nicht nur bei der Befassung mit dem Krieg in der Ukraine, sondern auch mit dem Blick auf die zukünftigen Krisen. »Mir begegnete das Feindbild Russland und auch China erstmals in voller Härte bei der Bundeswehr«, so Grässlin. Was jahrelang überwunden oder zumindest nicht relevant galt, treibt seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und den zunehmenden Spannungen, die rund um Taiwan geschürt werden, unheilvolle Blüten.

Wie es Grässlin trotz all der Erlebnisse in Krisen- und Kriegsgebieten, die er eindrücklich schildert, gelingt, Pazifist zu bleiben, überrascht. Auf die Frage, warum er nicht dem Trugschluss anheimfällt, es gäbe selbstverständlich die Guten, die zu Recht, weil zur Selbstverteidigung schießen und deshalb Waffen bekommen sollten, antwortete er: »Diese Frage empfinde ich als komplex. Allein über diese Frage ein weiteres Buch zu schreiben, würde wahrlich Sinn machen! Selbstverständlich hat die Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta. Aber wäre es nicht viel sinnvoller gewesen, das wesentlich erfolgreichere Modell sozialer Verteidigung anzuwenden?«

Dieser Weg scheint derzeit auch weiterhin keine Option zu sein, um die sich innerhalb der Ampel-Koalition bemüht wird. Seit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Zeitwende ausrief, ist die Friedensbewegung und mit ihr Jürgen Grässlin einmal mehr gefordert, aktiv Widerstand zu leisten. Trotz aller Diffamierungen und Rückschläge, die diese Haltung mit sich bringt.

Grässlin, der Mitglied der Grünen gewesen war, aber wegen der Zustimmung zum Kosovo-Einsatz im Jahr 2000 wieder aus der Partei austrat, arbeitet die Schlüsselerlebnisse seiner Friedens-Politisierung verständlich auf, legt offen, welche Fragen ihn umtreiben und als Vision für sein Handeln auch andere auf den Weg zum Frieden bringen könnten.

Jürgen Grässlin: Einschüchtern zwecklos: Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – Was ein Einzelner bewegen kann. Was kann ich tun? Heyne, geb., 384 S., 14 €.

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