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Georg Baselitz: Die Welt als Wald
Die Albertina in Wien zeigt 100 Zeichnungen von Georg Baselitz und rückt damit ein bisher stark vernachlässigtes Werksegment in den Mittelpunkt
Ich konnte nicht zeichnen. Das heißt, was man so schön an der Akademie macht, die Übersetzung aufs Papier, fiel mir schwer.» Das ist ein durchaus merkwürdiges Bekenntnis eines Künstlers, das Georg Baselitz hier abgibt. Und natürlich setzt er hinzu: «Das habe ich lange geübt, jetzt kann ich es.» In der Tat, wir haben es mit dem Werk eines Könners zu tun. Das Zitat entstammt einem klug zusammengestellten Katalog, schlicht «Georg Baselitz. 100 Zeichnungen» benannt, der zur gleichnamigen, in der vorvergangenen Woche in der Albertina in Wien eröffneten Ausstellung erschienen ist.
Georg Baselitz zählt zu den großen, den herausragenden Malern der Bundesrepublik (mittlerweile auch mit einer österreichischen Staatsbürgerschaft beschenkt). Im letzten Jahr hat er der Albertina wie auch dem Morgan Library & Museum in New York angeboten, je 50 grafische Arbeiten aus seinem Œuvre zu wählen und auf Dauer in ihre Sammlung aufzunehmen. Die großzügige Gabe, nicht nur an zwei renommierte Einrichtungen der Kunstvermittlung, sondern zugleich auch an das interessierte Publikum, wurde bereits unter dem Titel «Georg Baselitz: Six Decades of Drawings» in Übersee gezeigt und kann nun den ganzen Sommer über in Wien betrachtet werden.
Nun soll also das zeichnerische Beiwerk zum eigentlichen Schaffen, der Malerei, vielleicht gar dessen Vorstufe gezeigt werden? So einfach ist das nicht. Baselitz sagt, er habe seine Zeichnungen immer separat gemacht. Haben sie auch dieselbe Geschichte, dieselbe Figur oder denselben Inhalt, so seien sie doch eigenständig zur Malerei. Und tatsächlich fällt es nicht schwer, den Grafiken bei der Betrachtung einen solchen, den Gemälden ebenbürtigen Platz zuzugestehen.
Die Bildauswahl offenbart aber darüber hinaus etwas: In mustergültiger Art wird ein Jahrzehnte, ja mehr als ein halbes Jahrhundert überspannendes Werk in minimalistischer Selektion aufbereitet. Die Zeichnungen geben, ergänzt um kurze Wandtexte beredt Auskunft über eine Werkbiografie. Mehrere Bildgruppierungen helfen dabei, den Überblick zu behalten. Von den «Frühen Zeichnungen» schreitet man über die programmatisch «Auf den Kopf gestellt» genannte Anordnung zu «Motivbildern», «Ein neuer Expressionismus», «Pastorale und Kampfmotive» und schließlich zu «Remix» und «Späte Zeichnungen».
Georg Baselitz, 1938 unter dem bürgerlichen Namen Hans-Georg Kern geboren, benannte sich nach seiner obersorbischen Heimatstadt Deutschbaselitz. Ein begonnenes Studium an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee nahm ein schnelles Ende. «Gesellschaftspolitische Unreife» lautete der gegen ihn erhobene Vorwurf. Und so ging es für ihn von Berlin (Ost) nach Berlin (West), und er setzte seine Ausbildung an der Hochschule der Künste fort. Der Sozialismus wurde Baselitz von der DDR ausgetrieben, und doch trafen sein Leben und Arbeiten in der Bundesrepublik gleichsam auf Widerstände.
Für ungeheures Aufsehen sorgten in den 60er Jahren Baselitz’ «Helden»-Bilder. Besonders die großformatigen Gemälde, die 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs den soldatischen Helden von einst so zeigte, wie er war – versehrt, verletzt, am Boden liegend, mitunter tiergleich, strotzend vor Männlichkeit –, haben Empörung ausgelöst. Nach der Renaissance des Heldenbegriffs und des Wunsches nach soldatischer Stärke, zum Vorschein gekommen mit Ausbruch des blutigen russisch-ukrainischen Krieges, möchte man diese Bilder erneut ausgestellt wissen (wie etwa vom Frankfurter Städel-Museum 2016 getan). Zeichnungen aus dieser Werkgruppe finden sich aber nun auch an den Wänden der Albertina, zusammenhängend mit den Baselitz’schen «Neuen Typen», seinen Außenseiterdarstellungen und Bildnissen zerlumpter Künstler.
Fällt der Name Georg Baselitz, so denkt man zunächst gewiss an seine kopfstehenden Arbeiten. Mitunter gereichen sie heute zum billigen Witz, werden als plumper Formalismus missverstanden. Aber ein Formalist ist Baselitz keineswegs; als gewissermaßen ausgesprochen ökonomisch arbeitender Künstler ist er darum bemüht, mit geringen Mitteln große Wirkung zu entfalten. 1969 etablierte er dieses Vorgehen und kommt seitdem immer wieder darauf zurück.
«Das Umdrehen des Bildes hat mir bewiesen, dass die Realität das Bild ist, ein auf den Kopf gestellter Gegenstand ist tauglich für die Malerei, weil er als Gegenstand untauglich ist», beschreibt Baselitz in bestechend klarer Logik sein künstlerisches Prinzip. Die Motivumkehr ist gewissermaßen die radikal einfache Zuspitzung einer bei dem Künstler unhintergehbar vorhandenen Tendenz: Er will die in der Alltagswahrnehmung entschwundene sinnliche Erfahrung durch das Sehen wieder reanimieren.
Er geht dabei nicht den platt getrampelten Pfad, der sich an den Modernisten der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts orientiert und zu oft schon zu bloßer Epigonalität geführt hat. Baselitz verlässt nicht den Bereich des Figurativen, sucht nicht die größtmögliche Verzerrung in seinen Bildern. Im Gegenteil: Kleine künstlerische Invasiven – das Auf-den-Kopf-Stellen, das Fraktieren der Bildelemente, die Geometrisierung belebter Motive – führen zu gänzlich neuen Seherfahrungen.
Eine Papierarbeit, mit der die Ausstellung in Wien offensiv beworben wird und die auch den Einband des Ausstellungskatalogs ziert, demonstriert das Vorgehen und seine Wirkung aufs Beste. «Zurück in die Schulzeit» ist diese in Mischtechnik entstandene Grafik aus dem Jahr 2005 betitelt. Eine Baumlandschaft hat Baselitz aufs Papier gebannt. Ist denn das erlaubt in der unter Originalitätsdruck leidenden bildenden Kunst? Wie kann man sich eines solchen Motivs annehmen, ist es doch von dem Bereich der hohen Kunst in den des Konsumkitsches abgeglitten? Der Wald ist in allen Farben gemalt und gezeichnet, möchte man meinen. Die kanonisierten Baumabbilder sind unzählige Male zitiert worden. Von den Modernisten und Postmodernisten wurde der Wald abgeholzt und bis auf den letzten Ast dekonstruiert.
Aber Baselitz weiß, was er tut. «Zurück in die Schulzeit» ist um 180 Grad verkehrt und lässt auch den Museumsbesucher kopfstehen. Das Bild entzieht sich der allzu schnellen, automatisierten Zuordnung durch den Kopf und lässt durch die Augen begreifen, wie sich Realität unmittelbar vor uns zusammensetzt. Über die Moden des Kunstbetriebs und den Neuerfindungseifer der Kollegen ist ein solcher Zeichner erhaben. Denn er weiß, dass das Wie die Frage ist, die wirkliche Kunst am meisten berührt.
Georg Baselitz. 100 Zeichnungen«, bis 17. September, Albertina, Wien.
Colin B. Bailey, Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Georg Baselitz. 100 Zeichnungen. Von den Anfängen bis heute. Hirmer-Verlag, 192 S., geb., 39,90 €.
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