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Das Ł

Namen im Literaturbetrieb (Teil 2). Lieber im Lärm der Gegenwart als in der Ruhe der Vergangenheit leben

  • Magdalena Jagelke
  • Lesedauer: 5 Min.
Am besten wäre es, nur sich selbst zu hören - und die Kaffeemaschine: Magdalena Jagelke
Am besten wäre es, nur sich selbst zu hören - und die Kaffeemaschine: Magdalena Jagelke

Namen sind wichtig, das weiß jeder. Besonders, wenn man Literatur schreibt. Wenn sie ungewohnt wirken, werden sie oft falsch benutzt. Über Diversität wird gern geredet, darüber aber fast nie. Deshalb schreiben in »nd.DieWoche« Schriftstellerinnen und Schriftsteller über ihre Namen.

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Das »Ł« gehörte früher zu mir. Bis der Antrag auf Namensänderung durch war. Von Jagiełka zu Jagelke. Ungefähr zu selben Zeit kamen auch meine Haare ab. Es passte nicht mehr. Wir lebten nicht mehr im Ostblock. Die Haare der Mädchen im Westen reichten ihnen höchstens bis zum Rücken. Meine Haare aber waren dermaßen lang, dass sie meinen Arsch bedeckten.

Die Haare ab, der Ostblock aber immer noch im Kopf. Gymnastik draußen gleich nach dem Aufstehen, mit der aufgehenden Sonne, das Morsealphabet im Gedächtnis, die Angst vor Angriffen, Spionen, selbst in der Sicherheit. Ich bewahrte meine langen Haare in einer Box auf. An all das Grau in Deutschland, die Klarheit, die Konturen, die sich ins Gehirn schneiden, gewöhnte ich mich schnell. Ich fing an, schnörkellose Blusen zu tragen. Die Shirts und Röcke mit Blumenprint, die ich noch aus Polen hatte, ließ ich ganz hinten im Schrank verschwinden. Mein Kopf ist hinten flach. Body positivity. Mein Schädel gefällt mir mittlerweile. Das war nicht immer so. Ich brauchte Jahre, um zu akzeptieren, dass ich nun mal so aussehe, mir nichts anderes übrig bleibt als überhöhte Selbstliebe.

Ich mag alles an mir. Ich liebe es, meine Hände zu einem Herz zu formen und das auf Instagram zu posten. Ich habe Silvia Federicis »Die Welt wieder verzaubern« mehrmals gelesen. Ich glaube an die Astrologie. Aszendent Jungfrau, Sonne im Krebs, der Mond im Skorpion. Ich bin Tagträumerin und verschlafe Arbeitstage. Der Brotjob frisst meine Zeit, mein Sohn wartet solange auf mich.

Die Schatten der Vergangenheit. Vor einigen Jahren, als Kopien einer alten Überwachungsakte aus dem Ostblock die Familie erreichten, zählte ich meinen Namen darin. Der Name mit »ł«, Jagiełka, über zehnmal. Genervt schloss ich die Akte und betrachtete ihre Überschrift. Physiker. Weil mein Vater Physik studiert hatte. Sich weigerte, mitzumachen im System. Staub, Motten fressen das Papier in den Schubladen. Das alles ist so lange her.

Schnee von gestern, ein alter Hut, olle Kamellen. Und trotzdem das »Ł«. In Aktenschränken, verstaubten Schränken, in meiner Erinnerung. Ich vermisse meinen früheren Namen kaum. Nur die Umgebung meiner Kindheit fehlt mir manchmal. Nicht die Menschen, die sind mir meistens zu dreist und viel zu laut, sondern die Stille.

Im Ostblock wohnten wir in einem Ort, in dem die Tiere lauter waren als die Menschen. Katzen und Hunde. Ich hörte schon immer mehr, Lärm verwirrte mich. Ich gerate immer wieder in eine schmerzende Ekstase, etwa wenn eine Straßenbahn krachend vorbeifährt oder bei Baulärm. Noise pollution. Überall suche ich ruhige Räume, die perfekte Wohnung, ich frage mich, ob es sie überhaupt gibt. Eine Wohnung, in der man nur sich selbst und das Gurgeln der Kaffeemaschine morgens hört.

Ich weiß noch, dass meine Klassenlehrerin in dem Ort in Polen, in dem wir damals lebten, mich einmal in ihr Büro bat, weil ich mich ständig über den Lärm beschwerte. Die Lehrerin sagte, dass es in der Klasse ruhig sei. Sie fragte, was ich mit »all dem Lärm« meinte? Ich antwortete: Alles. Einfach alles. Das Schreien der Kinder. Die Luft, die Mücken, die vorbeifliegen, das Surren der Lampen oben an der Decke. Du hörst die Mücken? Und die Luft? Ich nickte. Ja. Die Lehrerin wusste nicht, wie damit umzugehen sei. Das, was ich hörte, hörte sie nicht. Sie verstand nicht. Aber das machte nichts.

Wir wanderten bald aus. In die BRD, nach Niedersachsen. In der neuen Schule änderte sich nichts. Ich hörte immer noch mehr, neuen Lärm. Ich lernte Deutsch. Ich machte das Abitur. Danach studierte ich. Der Lärm brachte mich jeden Tag aufs Neue um. Trotzdem wünschte ich mich nicht in den Ort meiner Kindheit, Krzykosy, zurück, obwohl es dort wahrscheinlich immer noch ruhiger war und ich dort vielleicht nicht so oft Kopfschmerzen hätte. Es geht um das Prinzip. Die Regeln, die ich mir selbst aufstelle. Nicht zurückblicken. Lieber im Lärm der Gegenwart als in der Ruhe der Vergangenheit leben.

Jagiełka. Fakes. In einer Chronik des Ortes Krzykosy taucht unser alter Name auf. Die Story zum Namen schrieb ein Autor, dessen Plagiate irgendwann aufflogen. Der Text enthielt verstaubte Begriffe und bildete Persönlichkeiten auf Bühnen ab. Auf dem Cover prangten die Porträts einiger Personen aus dem Buch.

»Ł«. Meine Mutter versucht seit Jahren, unsere Verwandten in den USA zu finden. Ein Teil der Familie wanderte Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem galizischen Teil des heutigen Polen dorthin aus. Die Suche war bisher erfolglos. Ich frage mich, warum es sie so sehr interessiert, warum sie im Vergessen herumstochert, was passieren würde, wenn plötzlich jemand aus Amerika vor der Tür stünde. Ob sie sich erschrecken würde? Es ist ein Traum. Ein Luftschloss. Wünsche. Diejenigen zu finden, zu denen kein Kontakt besteht. Mutter spricht nicht mehr über jenen Wunsch, überhaupt über Wünsche, sie lebt im Hier und Jetzt.

Einen Namen im Müll der Zeit entsorgen. Warum nicht. »Ł«. Ein Buchstabe, der mal zu mir gehörte. Nichts weiter als das. Nur ein Buchstabe.

Magdalena Jagelke, geboren 1974 in Polen, lebt seit 1986 in Deutschland. Sie schreibt Miniaturen und Romane. Zuletzt ist »Ein gutes Verbrechen« (2018) im Verlag Voland & Quist erschienen.

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