30 Jahre Bad Kleinen: Nahschuss ohne Projektil

30 Jahre ohne Klarheit: Am 27. Juni 1993 trafen Terroristen der RAF und die Staatsmacht in Bad Kleinen aufeinander

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
RAF – 30 Jahre Bad Kleinen: Nahschuss ohne Projektil

Der 27. Juni 1993 war ein Sonntag. Am Abend klingelte bei Helmut Kohl das Telefon. Eduard Ackermann, ein mit dem damaligen Regierungschef vertrauter Abteilungsleiter aus dem Kanzleramt, berichtete von einer Schießerei, die sich Stunden zuvor auf dem Bahnhof in Bad Kleinen, unweit von Schwerin, ereignet hatte. Die Behörden hatten zwei lang gesuchte Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) fassen wollen und zwei Leichensäcke füllen müssen. In einem lag Michael Newrzella, ein Polizist, im anderen Wolfgang Grams, ein Terrorist.

Die Informationen über den Her- und Ausgang des Antiterroreinsatzes seien irritierend gewesen, daher habe ihn der Gedanke an eine »mögliche Behördenschlamperei« beschlichen, vermerkte der Altkanzler in seinen Memoiren. Die Formulierung ist beschönigend, denn: Der Einsatz war und bleibt ein Skandal. Die geringste aller Folgen: Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) und Generalbundesanwalt Alexander von Stahl (FDP) verloren ihre Ämter.

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Die Wurzeln der RAF reichen in die Studentenbewegung der späten 60er Jahre. Ab 1970 bauten Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin eine Art »Stadtguerilla« auf. Bewaffnete Kleingruppen sollten das revolutionäre Gewissen der Volksmassen erwecken. Es gab Banküberfälle und Bombenanschläge, dann Verhaftungen und einen Prozess. Eine zweite RAF-Generation übernahm. Seinen Höhepunkt erreicht der Terror 1977 während des sogenannten Deutschen Herbstes, der mit der Entführung und der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer begann. Dieser ist einer von 34 Toten, die auf das Konto der RAF gebucht werden. Der Tod von Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim, der in der Szene als Hinrichtung gewertet wurde, befeuerte den Kampf einer dritten Generation. Diese war spätestens seit Anfang der 90er Jahre vom Verfassungsschutz unterwandert. Klaus Steinmetz, Urgestein der linken Szene, berichtete umfassend und lockte Birgit Hogefeld in eine Falle. Sie und Wolfgang Grams galten damals als RAF-Führungsfiguren.

Unter dem Decknamen »Weinlese« planten Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft, wo und wie die Festnahme erfolgen sollte. Der Bahnhof in Bad Kleinen wurde in Betracht gezogen – und verworfen: zu unübersichtlich. Am 27. Juni 1993 standen in Wismar knapp 100 Beamte bereit. Doch als die Fahnder mitbekamen, dass Hogefeld Steinmetz mit einem weiteren Aktivisten in Bad Kleinen zusammenbringen wollte, griff man auf den ursprünglichen Plan zurück. Die Aktion geriet zum Desaster.

Auslöser war ein falsch verstandener Funkspruch. Danach stürzten sich sieben GSG9-Beamte auf das Trio. Einer konnte fliehen: Wolfgang Grams. Er zog eine Pistole, gab zehn Schüsse ab, tötete den 25-jährigen Newrzella und verwundete einen weiteren Beamten. 33 Mal feuerten die Verfolger, auch sie trafen. Grams stürzte rücklings ins Gleisbett. Es folgte ein Nahschuss in die Schläfe.

Wer gab ihn ab? Eine Kioskverkäuferin wollte gesehen haben, dass die Beamten aus nächster Nähe geschossen hatten. Ein anonym gebliebener Polizist berichtete dem »Spiegel«, der Schuss sei aus einer Polizeiwaffe abgegeben worden. Die beteiligten Polizisten jedoch sahen offenbar nichts, sagten nichts. Die Ermittler machten haarsträubende Fehler bei der Tatortsicherung. So wuchs der ideologisch verstärkte Verdacht, dass die »Büttel des Schweinesystems« im Blutrausch gehandelt hätten.

Erst nach Monaten hielt die Staatsanwaltschaft Schwerin fest: »Nach seinem Sturz auf das Gleis hat sich Grams selbst in Suizidabsicht mit der von ihm mitgeführten Pistole den tödlichen Kopfdurchschuss zugefügt.« Überzeugend war das nicht, zumal die tödliche Kugel nie gefunden wurde. Man zog die Staatsanwaltschaft Zürich als unabhängige Behörde hinzu. Deren Gutachter bestätigten zwar Grams’ Pistole als Tatwaffe. Auch der Selbstschuss galt ihnen als plausibel. Aber eine Schramme an Grams’ Hand brachte die Experten dazu, ein gewaltsames Entwenden der Waffe aus seiner Hand nicht auszuschließen. Und warum sollte sich Grams gerichtet haben?

Erst acht Jahre nach seinem Tod wurde er mit einem – mutmaßlich von der RAF begangenen – Verbrechen in Verbindung gebracht. DNA-Spuren eines Haars sollen belegen, dass Grams mit der Ermordung von Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder 1991 zu tun hatte. Seltsamerweise erhob die Bundesanwaltschaft keinen Tatvorwurf.

Die RAF ist Geschichte und in den drei Jahrzehnten seit der »Schießerei von Bad Kleinen« wurde viel erzählt. Eine wesentliche Frage aber bleibt: Haben die staatlich Verantwortlichen inzwischen gelernt, Demokratie zu schützen, ohne sie dabei zu verletzen? Betrachtet man das gewaltsame Vorgehen gegen verzweifelte Klimaschützer oder die jüngst in Leipzig hochgekochte Radikalität, so fällt die Antwort nicht positiv aus.

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