Inklusion an Schulen: Der lange Weg

14 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention gibt es immer noch große Defizite bei der Inklusion an Schulen

Eine Schulhelferin betreut ein Kind mit Trisomie 21.
Eine Schulhelferin betreut ein Kind mit Trisomie 21.

Die Welt zu Gast in Berlin: Eine Woche lang maßen sich zuletzt bei den Special Olympics Athleten mit geistigen Behinderungen und Mehrfachbehinderungen im sportlichen Wettstreit. »Ein Ereignis, das ich nie vergessen werde«, nannte die Innen- und Sportsenatorin Iris Spranger (SPD) die Weltfestspiele. Die Stadt habe das deutliche Signal gesendet, dass behinderte Menschen hier willkommen seien, so die Botschaft. Für alle Bereiche gilt das allerdings nicht, wie immer wieder deutlich wird.

Vor allem an Schulen gibt es noch viel zu tun. »Verheerend« nennt Gesine Wulf den Stand der Inklusion in Berliner Schulen. Sie ist Mutter eines neurodiversen Sohnes und engagiert sich im Bündnis für schulische Inklusion. »Es war kein einfaches Jahr«, sagt sie. Sie fühlt sich vor allem vom Kampf mit den Behörden ausgezehrt. Für ihren Sohn, der die zweite Klasse einer Regelschule besucht, hat sie schon vor Monaten eine Assistenz beantragt. Doch bevor eine Entscheidung getroffen wird, muss sie Nachweise verschiedener Institutionen einreichen – obwohl die Diagnose und der Bedarf ihres Sohnes dem Jugendamt längst bekannt ist. »Gerade habe ich zehn Papiere vor mir liegen«, sagt sie am Telefon.

Dabei würde eine solche Assistenz eine große Entlastung bedeuten und den Schulbesuch sichern: Ein Schulassistent könnte den Schultag ihres Sohnes begleiten, ihn bei Stressreaktionen zu einem Teilungsraum geleiten oder bei der Aufgabenbearbeitung unterstützen, sagt Wulf. Zwar gebe es an der Schule einen sogenannten Schulhelfer – aber der müsse in acht Arbeitsstunden in der Woche noch drei andere Kinder betreuen. Dem Bedarf wird das nicht gerecht. »Dabei steht uns für das Recht auf Bildung eine Assistenz eigentlich zu«, sagt Wulf.

Die Diskrepanz zwischen dem gesetzlich festgeschriebenen Anspruch und der Realität ist auch in anderen Bereichen groß. Seit die Bundesrepublik die Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, haben Kinder und Jugendliche mit Behinderung einen Anspruch darauf, in regulären Schulen unterrichtet zu werden – auch bei geistigen Behinderungen und Verhaltensstörungen. Real wird dieses Angebot nicht von allen genutzt: 72 Prozent der Kinder mit Behinderungen besuchten 2020 eine Regelschule, der Rest eine Förderschule, an der sie mit anderen behinderten Kindern lernen.

Besonders hoch ist der Anteil von Kindern mit Inklusionsbedarf an den Grundschulen. An den weiterführenden Schulen sinkt der Anteil der behinderten Kinder dann wieder deutlich. Vor allem an den Gymnasien gibt es nur wenige Schüler mit Förderbedarf. Unter den 20 Schulen in Berlin, die einen besonderen Förderschwerpunkt anbieten, sind nur zwei Gymnasien.

Wulf kann verstehen, dass manche Eltern die Förderschule für den besseren Lernort für ihr Kind halten: Vermeintlich bessere Ausstattung, speziell ausgebildete Lehrkräfte, kleinere Klassen und ein Umfeld ohne Mobbing. Die Realität sieht häufig anders aus. »70 Prozent der Kinder an Förderschulen machen nie einen Abschluss«, sagt sie. Bei behinderten Kindern, die Regelschulen besuchen, sei die Chance auf einen Abschluss deutlich höher. Wenn der Förderbedarf Lernen festgestellt werde, teile man den Eltern häufig schon mit, dass ein Schulabschluss eventuell nicht möglich sei. »Da ist dann eigentlich schon klar, dass man am Ende in der Behindertenwerkstatt landet«, sagt Wulf. »Das hat doch mit Förderung im Wortsinn nichts zu tun.« Eigentlich müsse es darum gehen, behinderten Kindern Teilhabe an Bildung zu ermöglichen. »Jedes Kind kann lernen«, sagt sie.

Woran scheitert der Regelschulbesuch? Häufig an den Gegebenheiten vor Ort, so Wulf. An vielen Schulen gebe es nicht genügend Personal, um auf die Bedürfnisse von behinderten Kindern einzugehen. Vor allem in älteren Schulen, teilweise auch bei Neubauten scheitere die Inklusion körperlich behinderter Kinder an den räumlichen Gegebenheiten, etwa an fehlenden Rampen und Fahrstühlen für Rollstuhlfahrer oder fehlenden Leitsystemen für sehbehinderte Kinder. Schulen, die einen passenden Förderschwerpunkt anbieten, können zudem einen weiten Anfahrtsweg nötig machen. Manche Eltern, die keinen Schulplatz in Berlin finden, werdeb sogar auf Brandenburger Schulen geschickt. Auch für das kommende Schuljahr befürchtet Wulf, dass Schüler ohne passende Schulplätze dastehen könnten. »Das ist aktuell ein riesiges Thema bei den Beratungsstellen.«

Die Problematik könnte sich verschärfen: Die Zahl der Kinder mit Förderbedarf steigt kontinuierlich. Zum einen liegt das an der insgesamt gestiegenen Zahl von Schulanfängern, zudem hat sich die Diagnostik verändert. Zugleich sinkt die Zahl der Beschäftigten für die Betreuung: Der Fachkräftemangel im Bildungsbereich schlägt sich auch bei der Inklusion nieder. »Bei den Ressourcen für Inklusion wird in Mangelsituationen häufig gespart«, sagt Marianne Burkert-Eulitz, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Sonderpädagogen, die eigentlich für Förderstunden mit behinderten Kindern da sind, würden bei Personalmangel häufig eingesetzt, um reguläre Vertretungsstunden zu geben. »Natürlich fällt dann auf der anderen Seite etwas weg«, so Burkert-Eulitz.

»Es kann nicht sein, dass bei Mangel an der sonderpädagogischen Förderung gekürzt wird«, sagt auch Marcel Hopp, bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. »Die Last muss auf mehrere Schultern verteilt werden.« Dabei denkt er an multiprofessionelle Teams, die die Inklusion an Schulen erleichtern sollen. Die schwarz-rote Koalition habe bereits angekündigt, die Einstellung von Gesundheitsfachkräften an Schulen zu vereinfachen.

Solange die Entlastung nicht ankommt, wenden die Schulen teils drastische Maßnahmen an. In den letzten Monaten berichteten Eltern in Beratungsstellen vermehrt davon, dass ihr Kind vom Unterricht suspendiert werde, so Gesine Wulf. In diesem Fall werden auffällige Kinder, die die Klasse stören könnten, tageweise vom Unterricht ausgeschlossen. »Das passiert ständig.« Die Eltern müssten die Kinder dann ganztägig betreuen. Für viele bedeute das, dass mindestens ein Elternteil nicht mehr arbeiten gehen könne. »Das ist eine Armutsfalle, und die Eltern werden damit alleingelassen«, sagt Wulf.

»Das ist das falsche Mittel«, glaubt auch Marianne Burkert-Eulitz. Sie könne verstehen, dass sich Lehrkräfte von störenden Kindern überfordert fühlen, aber ein Ausschluss aus dem Unterricht unterlaufe die Schulpflicht. Sie wünscht sich, dass die verschiedenen Institutionen bei schweren Fällen besser zusammenarbeiten. »Gerade arbeiten die Ämter und Schulen häufig noch gegeneinander«, so Burkert-Eulitz. Sie schlägt vor, dass regelmäßig alle mit einem Kind arbeitenden Institutionen, von Schulen und Ämtern bis hin zu medizinischen Versorgern, zusammenkommen, um einen Plan für das betreffende Kind auszuarbeiten. »Wenn für die schwierigsten Fälle Lösungen gefunden werden, dann kann das auch eine Blaupause für andere Kinder mit Inklusionsbedarf sein«, sagt sie.

»Da, wo Lehrkräfte und Schulleitungen überfordert sind, muss man schauen, wie man sie unterstützen kann«, sagt Marcel Hopp. Er glaubt, dass die Lehrer in der Breite im Bereich Inklusion besser ausgebildet werden müssen. »Man kann das nicht auf die Sonderpädagogen reduzieren, alle sind für das Gelingen von Inklusion verantwortlich«, sagt er. Bei einem neuen Landesinstitut, das in den kommenden Jahren entstehen soll, soll Inklusion daher eine entscheidende Rolle spielen.

Für Gesine Wulf geht es auch um die Mentalität: »Es ist eine Haltungsfrage.« Viele Lehrer würden vor behinderten Kindern zurückschrecken, weil sie sich nicht genügend qualifiziert fühlten. »Aber wir waren ja auch nicht qualifiziert, als wir die Kinder bekamen«, sagt Wulf über sich und andere Eltern behinderter Kinder. Sie wünscht sich, dass die Schulen auch mehr auf die Eltern zugehen und mit ihnen kooperieren. »Wir sind ja selbst Experten in der Sache unserer Kinder.«

Wenig ist dazu bekannt, wie die Senatsverwaltung unter der neuen Chefin Katharina Günther-Wünsch (CDU) künftig mit dem Thema umgehen will. Bisher hat sich die seit drei Monaten im Amt befindliche Bildungssenatorin nicht prominent zu diesem Thema geäußert. »Wir haben den Eindruck, dass Inklusion nicht unbedingt im Fokus steht«, sagt Gesine Wulf. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass die Koalition »Inklusion unterstützen und qualitativ ausbauen« will. »Einen Kurswechsel wird es nicht geben«, sagt SPD-Politiker Marcel Hopp. Und: »Die UN-Vorgaben gelten unabhängig von den politischen Kraftverhältnissen.«

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