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  • Kritik am Grundrechtereport

Kinderarmut, Niedriglöhne, Obdachlosigkeit

Im diesjährigen Grundrechtereport kommen die sozialen Grundrechte zu kurz. Eine Ergänzung

  • Inge Hannemann, Victor Perl und Thorben Peters
  • Lesedauer: 10 Min.

Der diesjährige Grundrechtereport mit dem Schwerpunkt »Krieg, Klima, Krise« beschäftigt sich mit dem Ukraine-Krieg und dessen Auswirkungen, mit den Klima-Protesten, der wachsenden Armut, Flucht und Asyl und den jeweils darauf bezogenen Grundrechtsverletzungen. Trotzdem kommen die sozialen Grundrechte zu kurz. Der Bericht, der seit 1997 traditionell am 23. Mai, dem Tag des Grundgesetzes vorgestellt wird, wird herausgegeben von der Humanistischen Union und zehn weiteren Organisationen, darunter Pro Asyl, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein sowie die Gesellschaft für Freiheitsrechte. Wir erlauben uns hier einige Ergänzungen.

Kinder nicht vergessen

Der Grundrechte-Report hat recht, wenn die Herausgeber*innen schreiben, dass »immer mehr Menschen die Kosten für Miete und Lebensmittel nicht mehr aufbringen können«. Die Juristin Sarah Lincoln stellt fest, dass das Geld bei vielen Menschen spätestens am Monatsende nicht mehr für den Supermarkteinkauf reiche. Es folgt die Schlussfolgerung, dass durch die Inflation und den dadurch entstandenen Kaufkraftverlust für die Menschen in den Grundsicherungen diese nicht nur sehr belastend sei, sondern es auch eine Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist. Angesichts der Inflation sei es fraglich, ob die Grundsicherung in Höhe von 502 Euro für eine alleinstehende Person ausreiche, um das Existenzminimum zu sichern. »Wenn die Lebensmittel- und Energiekosten weiter steigen wie bisher, bietet das Bürgergeld keinen adäquaten Mechanismus, auf diese Situation zeitnah zu reagieren. Weitaus sinnvoller wäre daher ein auskömmlicher Regelsatz in Höhe von 725 Euro«, befindet Lincoln von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Hier spielt sie auf den Berechnungsmechanismus der Bundesregierung an, der keineswegs garantiert, dass die Regelsatzerhöhungen die aktuellen Preisentwicklungen abbilden. Bereits im Vorwort wird kritisiert: »Wenn immer mehr Menschen verarmen, während einige wenige immer reicher werden, steht das in Konflikt mit dem Sozialstaatsgebot und dem Schutz der Würde der Betroffenen.«

Lincoln hat mit ihren Feststellungen über die Inflation, über das Existenzminimum und dem Sozialstaatsgebot, welches die Würde schützen soll, recht. Trotzdem ist das Kapitel mit sechs Seiten leider sehr kurz gekommen. Kritisiert wurden die nicht ausreichenden Entlastungspakete der Bundesregierung während der Corona-Pandemie, die allgemeine Berechnungsmethode der Regelsätze im Bürgergeld und dass dieses nicht ausreiche. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, welche z.T. noch schärfere Gesetze beinhaltet, wurden leider nicht erwähnt. Kinderarmut ebenso wenig. Nun ist Kinderarmut auch immer Elternarmut und könnte damit abgehandelt sein. Trotzdem darf nicht unerwähnt bleiben, dass laut dem Statistischen Bundesamt 2021 jedes fünfte Kind (21,3 Prozent) von Armut betroffen oder armutsgefährdet war. Das waren drei Millionen Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren. Arm oder armutsgefährdet, bedeutet nichts anderes, als dass die Zugehörigkeit in einer Gesellschaft mit einem Mindeststandard nicht mehr gegeben ist oder bedroht ist. In der Europäischen Union gelten Menschen als arm, wenn diese über weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens ihres Landes verfügen.

Allerdings ist Armut mehr als eine statistische Berechnung. Kinderarmut wirkt sich auf vielfältige Weise aus: Zum Beispiel wenn auf Geburtstagsfeiern verzichtet werden muss, auf Urlaub oder die Reparatur des Fahrrads. Wer nach den Sommerferien nicht über die Erlebnisse aus den Ferien mitreden kann, ist oftmals ausgrenzt oder kann eben nicht sein schönstes Erlebnis in einem Deutsch-Aufsatz niederschreiben. Neben den materiellen Aspekten gehören Gesundheit, Lebenserwartung, Bildung und das Wohnen bzw. das Wohnumfeld ebenso zur Armut wie zum Reichtum. Wer reich ist, kann sich Gesundheit oder Bildung kaufen. Gemeint ist an dieser Stelle ein auskömmliches Einkommen, bei dem nicht hin- und hergeschoben werden muss, um sich z. B. ein Erkältungsmittel oder gesunde Lebensmittel zu kaufen oder um sich einen Museumsbesuch zu leisten. Sogenannte »angemessene Mieten«, wie es oft bei den Grundsicherungen (Bürgergeld oder Sozialhilfe) heißt, kann auch heißen: Wohnungen, die schlecht isoliert sind oder Wohnen auf engstem Raum, wo das Kind kein eigenes Zimmer erhält, um in Ruhe seine Hausaufgaben für die Schule zu erledigen. Kinderarmut ist: früh zu lernen, mit Entbehrungen zu leben oder Ausreden zu finden, warum man nicht zum Geburtstag einer Klassenkameradin kommen kann.

Mangelernährung, Isolation oder Ausgrenzungen, die bis zum Mobbing führen können, verletzen die Grundbedürfnisse und Rechte von Kindern. Dem kann nur entgegengewirkt werden, wenn eine existenzsichernde Kindergrundsicherung schleunigst auf den Weg gebracht wird, wenn Bildung nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängig ist und wenn Kinder nicht als kleine Erwachsene gesehen werden. Kinder und Jugendliche müssen das Recht haben, ihr Leben sorgenfrei leben zu dürfen.

Arm trotz Arbeit

Etwa 7,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland im Niedriglohnsektor. Betroffen ist jeder fünfte Beschäftigte, ein trauriger Spitzenwert in Europa. Seit 2015 gibt es als Lohnuntergrenze einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der seit Oktober 2022 bei 12 Euro pro Stunde liegt. Zu wenig, um vor Armut zu schützen. Was viele nicht wissen: Es gibt millionenfachen Mindestlohnbetrug in Deutschland. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kam in einer Studie zum Ergebnis, dass etwa 2,4 Millionen Beschäftigten der gesetzliche Mindestlohn widerrechtlich vorenthalten wird. Das ist knallharte Wirtschaftskriminalität. Die Beschäftigten werden um ihren Lohn betrogen, zudem werden Sozialversicherungsabgaben und Steuern geprellt. Nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes beläuft sich der finanzielle Schaden für die Allgemeinheit auf etwa fünf Milliarden Euro Einnahmen pro Jahr. 

Es gibt eine Vielzahl an Betrugsmöglichkeiten für kriminelle Unternehmen. Beispielsweise wird nur ein Teil der Arbeitszeit vergütet, häufig in Kombination mit unrealistischen Leistungsvorgaben, die unbezahlte »Überstunden« nach sich ziehen. Teilweise wird die Arbeitszeit intransparent und nicht nachvollziehbar erfasst. Bekannt sind auch Fälle, bei denen Aufwendungen für Werkzeuge, Kleidung, Unterkünfte oder Verpflegung abgezogen werden.

Besonders betroffene Branchen sind das Baugewerbe, Gast- und Übernachtungsstätten, Reinigung, häusliche Pflege, Fleischverarbeitung und das Speditions- und Logistikwesen. Allerdings sind das Branchen, bei denen es im Vergleich auch die meisten Kontrollen gibt. In anderen Bereichen wird weniger hingeschaut. Durch eine parlamentarische Anfrage der Linken wurde zum Beispiel bekannt, dass im großen Agrarland Niedersachsen ein landwirtschaftlicher Betrieb statistisch gesehen nur alle 350 Jahre (!) mit einer Mindestlohnkontrolle rechnen muss. Betrug kann es grundsätzlich in allen Branchen geben. In den letzten Jahren wurden sogar Fälle bei vier Fußball-Bundesligisten bekannt, die Jugendtrainer, Betreuer oder Fanshop-Mitarbeiter um den Mindestlohn betrogen hatten – darunter der Krösus Bayern München.

Für die Kontrollen ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) zuständig, ein Arbeitsbereich der Zollbehörde. Seit vielen Jahren gibt es die Kritik, dass die FKS notorisch unterbesetzt ist und daher viel weniger kontrollieren kann, als es notwendig wäre. 2021 gab es 7339 besetzte Stellen, notwendig sind mindestens 15 000 Kontrolleure. Die Aufklärungsquote bei Mindestlohnbetrug liegt im Promillebereich. Von 1000 Betrugsopfern können statistisch ein bis zwei Beschäftigte darauf hoffen, dass ihr Fall aufgeklärt wird. Jeder Parkplatz wird in Deutschland besser bewacht als die Einhaltung des Mindestlohns.

Um die Aufmerksamkeit und den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen, wurde 2021 das Meldeportal www.mindestlohnbetrug.de gestartet, mit dem Betroffene anonym Verdachtsfälle melden können. Im Unterschied etwa zu England gibt es hierzulande keine zentrale staatliche Meldestelle für Betroffene. Notwendig wäre neben mehr Kontrollen auch, Gesetzeslücken zu schließen und es schwerer zu machen, den Mindestlohn zu umgehen. Zudem müssen erwischte Unternehmen endlich konsequent von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden.

Der gesetzliche Mindestlohn ist eine wichtige Errungenschaft, um Niedriglöhne zurückzudrängen und auch um höhere Tariflöhne durchzusetzen. Es gilt weiterhin für einen armutsfesten Mindestlohn zu kämpfen und dafür zu sorgen, dass er tatsächlich flächendeckend durchgesetzt und nicht mehr unterlaufen wird.

Menschen ohne Obdach

Auf 263 000 Menschen ohne Wohnung kommt die Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zum Februar 2022. Die meisten davon leben in Notunterkünften, bei Verwandten oder Bekannten. Rund 34 000 von ihnen leben direkt auf der Straße und sind damit der Witterung schutzlos ausgeliefert. Wohnungslose Menschen werden in der Regel nicht älter als 49 Jahre. Damit leben sie rund 30 Jahre weniger als der Durchschnitt in Deutschland. Jeder Achte stirbt aufgrund von Gewalt. Die häufigste Todesursache ist jedoch die Vergiftung durch Drogen. Allerdings hat es im Vergleich zu vorherigen Jahren eine Verschiebung gegeben: Alkoholvergiftungen sind deutlich häufiger geworden, »harte« Drogen dagegen haben an Bedeutung verloren. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Infektionen spielen eine große Rolle – Krankheiten, die in der Regel nicht zum Tod führen, wenn sie rechtzeitig und richtig behandelt werden.

Jeder Mensch in Deutschland hat das Recht auf ein Obdach. Das beinhaltet den Schutz vor Witterung, eine Heizung, Strom sowie den Zugang zu Duschen und Toiletten. Viele obdachlose Menschen meiden jedoch Notunterkünfte, weil die hygienischen Bedingungen dort oft so schlecht sind und die Gefahr von Gewalt und Diebstahl so hoch ist, dass sie das Leben auf der Straße vorziehen. Diejenigen, die in Notunterkünften bleiben, bleiben dort im Schnitt ein Jahr oder länger, bevor sie in soziale Hilfen weitergeleitet werden. Viele werden bei der Suche nach einer Wohnung aufgrund ihrer Obdachlosigkeit diskriminiert. Nicht wenige bleiben ihr Leben lang in provisorischen Notunterkünften. Wohnungslose Menschen haben keine Lobby, auch wird ihnen von vielen Kommunen das Recht auf Obdach und damit Schutz nur unzureichend gewährt, in der Hoffnung, diese Menschen ziehen weiter. Diese vertreibende Politik setzt darauf, das Leben für Wohnungslose möglichst unbequem zu machen. Dies ist eine zynische Politik, bedenkt man die Lebenserwartung wohnungsloser Menschen.

Vielen Menschen könnte man schon vor dem Wohnungsverlust helfen. Präventive Beratungsangebote oder der Schnitt von Mietschulden könnten schlimmeres verhindern. Housing-First-Ansätze könnten helfen, wohnungslose Menschen wieder in Wohnungen zu überführen. Obdachlosigkeit ist meistens aber auch begleitet von psychischen Krankheiten sowie Suchterkrankungen. Der Ausbau sozialpädagogischer, psychologischer und medizinischer Hilfen wäre dringend geboten. Ordnungspolitische Ansätze verlagern das Problem und legen Menschen mit bereits genug Problemen nur neue Probleme auf.

Grundrechte sind vor allem auch soziale Rechte

Ohne die grundlegendste Versorgung von dem, was ein Mensch zum Leben braucht, kann ein Mensch seine weiteren Rechte schwer ausleben. Das beinhaltet das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht auf eine faire Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit sowie das Recht auf eine stetige Verbesserung des Lebensstandards. Vielen Menschen ist der Zugang zu diesen Rechten verwehrt. Damit fehlt ihnen die Grundlage für weitere Rechte wie zum Beispiel das Recht auf Bildung, die Entfaltung der Persönlichkeit oder aber körperliche Unversehrtheit. Mehr noch, ein Leben ohne verwirklichte Grundrechte geht an die Existenz. Menschen einer solchen Situation auszusetzen ist daher Gewalt, in einem so reichen Land wie Deutschland sogar Gewalt, die vorsätzlich in Kauf genommen wird. Entsprechend groß sollte unsere Aufmerksamkeit darauf sein, entsprechend scharf unsere Gegnerschaft zu den Verursachern.

Inge Hannemann ist Journalistin und Sozialaktivistin, Victor Perli ist umverteilungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke, Thorben Peters leitet eine Obdachloseneinrichtung der Diakonie in Lüneburg und ist Landesvorsitzender der Linken Niedersachsen.

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