- Kultur
- Buchrezension
Krisen von links überwinden
»Genug!« ordnet die großen Probleme unserer Zeit ein und sucht nach Lösungen, die Linke jetzt dringend finden müssen
Der Begriff »multiple Krisen« ist wohl das Schlagwort der Stunde: Corona, russischer Angriffskrieg und die Klimakatastrophe, die mit voller Geschwindigkeit auf uns zurast. Die Folgen all dessen spüren bisher vor allem arme Menschen, die vom Staat – wenn überhaupt, nur mit ein paar Einzelentlastungen hier und da – alleingelassen werden. Wäre das nicht eigentlich der perfekte Moment für die deutsche Linke, endlich Massen zu mobilisieren und der neoliberalen Politik Lösungswege entgegenzusetzen?
Genau das dachten sich auch die Initiator*innen von »Genug ist genug«, als sie im vergangenen Herbst ein Bündnis ins Leben riefen – angelehnt an die britische Organisation »Enough is enough!« –, das ein möglichst breites Spektrum linker Bewegungen vertreten und erreichen sollte. Trotz der extremen Zuspitzung wirtschaftlicher Unsicherheiten in der Arbeiterklasse blieb die kämpferische Massenbewegung aus. Etwas Wertvolles ist trotzdem daraus entstanden: ein Sammelband, der die zahlreichen sozialen Probleme unserer Zeit zusammenfasst, ihre Ursprünge zu verstehen sucht und sogar immer wieder konkrete Handlungswege formuliert. Zwar warten Lesende von »Genug!« vergebens auf eine befriedigende Lösung für das linke Kernproblem, wie man die arbeitende Klasse in einer relevanten Größenordnung mobilisieren könnte – eine solche Antwort gibt es aber wohl sowieso nicht. Doch all die, die trotzdem danach suchen, werden irgendwo zwischen den zehn auf 309 Seiten verteilten Texten fündig werden.
Erschienen ist das Buch im Brumaire-Verlag, der auch das relativ junge »Jacobin«-Magazin herausgibt. Der deutsche Ableger der US-Zeitschrift konnte sich in den letzten Jahren als eine Art Sammelbecken für junge, eher intellektuelle Linke etablieren. Zwar spricht »Jacobin« in der Tendenz ein akademisches Publikum an, in der Redaktion zeigt man sich aber stets bemüht, nicht zu weit an der Realität der Arbeiterklasse und am Kampf der Gewerkschaften vorbeizuschreiben – ein schwieriges Unterfangen und Dauerbrennerproblem der Linken.
Auch die neun Autor*innen, die auf dem Buchumschlag abgebildet sind, lassen sich ungefähr im politischen Dunstkreis der Zeitschrift verorten. Oben links sind zum Beispiel »Jacobin«-Chefredakteurin Ines Schwerdtner und Verlagsgeschäftsführer Lukas Scholle zu sehen. Die Gewerkschafterin und der linke Ökonom umrahmen die Kapitel mit Pro- und Epilog und steuern den ersten Text bei, in dem sie in nur 20 Seiten den Neoliberalismus als Quelle aller kapitalistischen Übel behandeln. Eine wichtige Einführung, denn das Wort Neoliberalismus und das entsprechende Adjektiv werden im Buch 175-mal genannt.
Kaum einer der Texte kommt daran vorbei, die Wurzel unserer heutigen Krisen in den 80er und 90er Jahren zu finden, als Margaret Thatcher, Ronald Raegan und Helmut Kohl in einer Ära der Deregulierung die neoliberale Weltordnung zum Aufstieg brachten. »Die kapitalistische Profitlogik existierte vorher, doch der Neoliberalismus hat sie zur Gesellschaftsnorm erhoben«, stellen Schwerdtner und Scholle im ersten Kapitel fest.
Darauf folgen Beiträge zu den ganz großen linken Themen, unter anderem: Pflege-, Wohnungs-, Klimakrise, Arbeitspolitik, extremer Reichtum und systematische Armut. Das Buch versucht, ähnlich wie das namensgebende Bündnis, ein möglichst großes Spektrum abzudecken. Unter den Autor*innen finden sich namhafte Vertreter*innen aus verschiedenen Bereichen. Darunter Dierk Hirschl, Chefökonom bei Verdi, Maurice Höfgen, Wirtschaftsreferent im Bundestag und »Jung und Naiv«-Journalist, sowie Şeyda Kurt, Autorin, Journalistin und linke Influencerin.
Ganz eindeutig wurden sowohl die behandelten Themen als auch die Autor*innen mit Bedacht gewählt. So ist es besonders aussagekräftig, dass Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend, vom Cover lächelt. Sie hat nicht etwa einen Beitrag zur Klimakrise beigesteuert, sondern schreibt über die Systematik der Armut in Deutschland. »Wenn du in Neukölln lebst, lebt jede vierte Person, die du siehst, in Armut. Wenn du in Ostdeutschland lebst, ist es jede fünfte. In Deutschland leben 13 Millionen Menschen in Armut – davon fast drei Millionen Kinder.« Mit diesen Fakten öffnet Heinrich das Kapitel, um dann Schritt für Schritt zurückzuverfolgen, warum in einem der reichsten Länder der Welt so viele Menschen in bitterer Armut leben. Spoiler: Eine lange Reihe politischer Entscheidungen der Regierungskoalitionen der letzten Jahrzehnte ist schuld – zu guter Letzt die Ampel-Koalition, die laut Heinrich zwar in der Lage wäre zu handeln, dies aber nicht aus eigenem Antrieb heraus tut.
Auch Kira Hülsmann fällt etwas aus der Reihe der Intellektuellen, die sich im Buch zur porösen Lage der Linken äußern, wie sie es sonst eben auch immer tun. Als Pflegerin sind mit ihr Perspektiven und Realitäten aus der klassischeren Arbeiterschaft abgebildet. Eindringlich erzählt sie in ihrem Text vom Arbeitsalltag auf der Intensivstation und der ständigen Überlegung, einfach zu gehen – denn der desaströse Arbeitskräftemangel in der Pflege lässt die Schichten immer unerträglicher werden. »Wir stecken in einer Krise, die kurz davor ist, zu einer Katastrophe zu werden. Diese Krise ist aber nicht plötzlich aufgetaucht, sondern hat sich langsam entwickelt – durch Kostenpauschalen, Privatisierungen und sich verschlechternde Arbeitsbedingungen.« Hülsmann spricht jedoch neben der Möglichkeit, einfach das Handtuch zu schmeißen, noch von einer zweiten Option: »Wir können uns zur Wehr setzen und für ein gerechtes System kämpfen. Wir können laut sein und Strukturen aufbauen, die sich Gehör verschaffen!«
Kulturkampf und identitätspolitische Themen bleiben im gesamten Buch erfrischend abwesend – vielmehr geht es um materielle Realitäten chronisch ausgebeuteter Menschen in Deutschland, ohne dabei verschiedene Unterdrückungsformen, zum Beispiel patriarchal oder weiß geprägte Machtstrukturen, außer Acht zu lassen. Nur das Thema Flucht und Migration fehlt leider gänzlich; schade, denn genau dazu bräuchte es linke Narrative mit einer ähnlich klassenbewussten und antirassistischen Haltung, wie sie in »Genug!« zu finden sind.
Und, »kommt der Kurswechsel«?, fragen Schwerdtner und Scholle ganz zum Schluss. Die kurze Antwort, die kaum überrascht: Erst einmal nicht. »Dass sich innerhalb einiger Monate etwas grundlegend verändert, ist unwahrscheinlich.« Und wie kann es doch gelingen? Nur über eine Parteilinke, die das zitierte breite Bündnis im Rücken hat, argumentieren die Autor*innen und ziehen dafür Vivek Chibers Essay »Unser Weg zur Macht« zu Rate: »Will (die Linke) sich als wirkliche Kraft organisieren, muss sie das in einer Massenpartei tun, die sich auf Kader stützt und eine zentrale Führung und innere Kohärenz aufweist.« An der Basis der arbeitenden Klasse müsse eine solche Partei – von der sich hierzulande nur träumen lässt – ganz nah dran sein.
Ob das die Antwort auf die Gretchenfrage der deutschen Linken ist, lässt sich schwer sagen. Um diese zu diskutieren, abzuwägen, wieder an die Wand zu nageln, um sie dann noch mal komplett neu zu formulieren, müssen wir aber überblicken, wo wir gerade stehen. Dabei hilft der Sammelband »Genug!« und leitet in klaren Worten her, »warum wir einen Kurswechsel brauchen«.
Ines Schwerdtner/Lukas Scholle (Hg.): Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen. Brumaire-Verlag, 309 S., br., 19 €.
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