Hasan al-Bannā: Er hatte ein fantastisches Gedächtnis

Hasan al-Bannā war der Gründer der Muslimbrüder. Gudrun Krämer legt eine umfangreiche Monografie vor

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 6 Min.
War auch für Wahlen - aber nur, wenn man gewinnt: Hasan al-Bannā (1906–1949)
War auch für Wahlen - aber nur, wenn man gewinnt: Hasan al-Bannā (1906–1949)

Die Muslimbrüder – über sie ist hierzulande kaum mehr bekannt, als dass sie eine in Ägypten entstandene islamistische Gruppierung sind, die behauptet, der Moderne und der Demokratie zugewandt zu sein. Da Muslimbrüder in vielen Konflikten in der islamischen Welt eine Rolle spielen, bietet die umfangreiche Monografie, die die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer über ihren Begründer, Hasan al-Bannā (1906–1949) vorgelegt hat, eine wichtige Orientierung.

Al-Bannā wurde im Nildelta als erstes Kind eines Uhrmachers geboren und erlernte auch selbst dieses Handwerk. Sein Vater verfügte über eine umfangreiche Bibliothek und sah seine eigentliche Aufgabe im Aufstöbern, Verbreiten und Publizieren von islamischen Traditionsbeständen, die im Kolonialismus in Vergessenheit geraten waren. Dass Hasans Brüder Instrumente spielten und sangen – einer verfasste später sogar religiöse Bühnendramen – verweist auf sufische Wurzeln der Familie, die auch für Hasan immer bedeutsam blieben. Vom orthodoxen Islam wird die Musik teilweise bis heute als unislamisch verdammt.

Sein Vater gehörte der islamischen Reformbewegung Nahda an, die Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten und im benachbarten syrisch-irakischen Raum entstanden war, um ein neues Verhältnis der Muslime »zu Vernunft, Wissenschaft und Zivilisation« zu entwickeln, gleichzeitig sollte die Wiederaneignung des islamischen Erbes zu neuem Selbstbewusstsein führen. Potenziell gegen die koloniale Vorherrschaft von Engländern und Franzosen gerichtet, umfasste die Nahda verschiedene Strömungen, auch laizistische – die von Hasan al-Bannā später bekämpft wurden.

Unter finanziellen Opfern der keineswegs begüterten Familie erhielt der mit einem fantastischen Gedächtnis ausgestattete Hasan sowohl weltliche als auch religiöse Grundausbildungen auf Arabisch. Die Sprache der britischen Machthaber lernte er nie. Am meisten prägten ihn die damals wiederentdeckten frühmittelalterlichen Werke von Abu Hamid al-Ghazali (um 1055–1111), der die außerhalb der orthodoxen Koranexegese und der Sunna entstandene aufklärerische arabische Philosophie ausmerzen wollte. Für nützlich hatte al-Ghazali nur das Wissen erklärt, das zur religiösen Praxis und zum Broterwerb nötig war. Al-Bannā, den es zum Aktivismus drängte, legte das vor allem dahingehend aus, dass zu viel Wissen vom Handeln abhalten würde. Bis heute gehört al-Ghazali zu den wichtigsten klassischen Referenzen auch für radikalere Islamisten – der Grat zwischen ihnen und den Muslimbrüdern ist also schmal.

Mit knapp 17 Jahren begann al-Bannā im Lehrerseminar Dar el Ulum (Haus der Wissenschaft) in Kairo zu studieren. Die dortige Szene der dem europäischen Lebensstil nacheifernden Ägypter stieß ihn derart ab, dass er 1924 während des Ramadan begann, mit einigen Gleichgesinnten in die Kaffeehäuser des Vergnügungsviertels zu gehen, um dort kurze religiöse Ansprachen zu halten. Das war eine völlig neue, von Islamisten bis heute aber systematisch geübte Praxis, dass nicht nur »Scheichs und staatlich approbierte Prediger [...], sondern einfache, aufrechte Männer« unabhängig von Ausbildung und Status», die Da’awa genannt werden, die Mission abtrünniger Muslime übernehmen sollten.

Das, was al-Bannā von der Moderne zu übernehmen bereit war, beschränkte sich letztlich – und hier folgte er al-Ghazali – auf die von Männern zur Berufsausübung notwendigen Techniken. Er befürwortete moderne Kommunikationsmittel und einen Teil staatlicher Institutionen. Obwohl er Parteien zunächst ablehnte, weil sie der angestrebten Einheit der Muslime entgegenstehen würden, akzeptierte er später den Parlamentarismus.

Als al-Bannā 1927 eine Stelle als Volksschullehrer in Ismailia am Suezkanal antrat, war ihm bereits klar, dass es für die Da’awa einer großangelegten Organisation bedurfte. Obwohl erst 21, besaß er genug Charisma und Organisationstalent, um ein Jahr später – vor allem mit am Suezkanal tätigen Arbeitern – die Muslimbruderschaft zu gründen. Mithilfe einiger Sponsoren entstanden eine Knabenschule und eine Moschee. Al-Bannā unternahm immer größere Reisen, um Anhänger zu gewinnen und Zweigstellen der Bruderschaft anzuregen.

Die Organisation gab sich unpolitisch und war als karitativer Verein registriert. Sie unterhielt Bildungsstätten, später auch medizinische Einrichtungen. Charity-Aktivitäten sind bis heute ein Grundzug islamistischer Gruppen und tragen zu ihrem Erfolg bei.

Der Hauptsitz der Muslimbruderschaft wurde 1933 nach Kairo verlegt. Bis Ende der 1940er Jahre hatte sie eine Anhängerschaft von mehreren Hunderttausend jungen Männern, die sie so ähnlich organisierte wie die Briten ihre Pfadfindergruppen. Neben der religiösen Unterweisung spielte Sport eine wichtige Rolle, hauptsächlich die modernen Sportarten, nicht die traditionellen.

Obgleich al-Bannā den Frauen eine traditionelle Rolle zudachte, gebunden an das Haus und die Familie, gab es in der Bruderschaft durchaus Bezugspunkte zu modernen Bewegungen zur Frauenemanzipation. Es kam zur engen Zusammenarbeit mit der einflussreichen Labiba Ahmad (um 1875–1951), die älter als al-Bannā war und die 1920 den Nahda-Verein gegründet hatte, der das islamisch-konservative Frauenbild propagierte, was jedoch gesellschaftliches Engagement wie Wohltätigkeit und religiöse Belehrung von Frau zu Frau ebenso einschloss wie eingeschränkte weibliche Berufstätigkeit, beispielsweise im medizinischen Bereich. 1932 entstand eine Muslimschwesternschaft, die auch Gesundheitszentren für Frauen betrieb.

Wie viele Kolonisierte gerieten auch Muslimbrüder in den 1930er Jahren in Versuchung, sich mit den Nazis gegen England zu verbünden. Al-Bannā konnte seine Organisation jedoch weitgehend neutral halten. Im Zweiten Weltkrieg wurden politische Spannungen in der Bruderschaft immer offensichtlicher. Zunehmender Druck der Behörden brachte al-Bannā dazu, einen militärischen «Spezialapparat» zu entwickeln, der Verteidigungsaufgaben übernehmen sollte. Am Krieg der arabischen Staaten gegen das neugegründete Israel 1948 beteiligten sich die Muslimbrüder mit einer bewaffneten Einheit. Al-Bannā legte Wert darauf zu betonen, dass es sich dabei um einen ökonomischen Konflikt handeln würde, nicht um einen rassistischen und bemühte sich um gute Beziehungen zu den ägyptischen Juden wie auch zu den Kopten. In dieser aufgeheizten Gemengelage wurde er am 12. Februar 1949 von der politischen Polizei des Innenministeriums ermordet.

Al-Bannā als «Architekten des Islamismus» schlechthin zu bezeichnen, wie es Gudrun Krämer im Titel ihres Buches macht, ist etwas überzogen. Treffender wäre, ihn als Begründer der bis heute virulenten islamistischen Strömungen zu sehen, die der Orthodoxie verhaftet bleiben, die aber moderne Technik öffnen und den Parlamentarismus als Mittel der Machtübernahme billigen. Die Muslimbrüder erscheinen weniger radikal als Salafisten, die einen Gottesstaat nach dem angeblichen Vorbild der ersten «rechtgeleiteten» Kalifen anstreben.

Die von al-Bannā organisierten Muslimbrüder waren Teil der antikolonialen Bewegung und gehören zum Kontext der Entwicklungsgeschichte der Demokratie in Ägypten. Dem Buch fehlt aber der Ausblick auf die spätere Entwicklung der Muslimbrüder, denen – entgegen ihrer Selbstdarstellung – nur ein geschrumpfter Demokratiebegriff eigen ist, der sich seiner qualitativen Inhalte entledigt hat und nur quantitativ auf die Schaffung von Mehrheiten bei Wahlen beschränkt ist.

Die Akzeptanz, die sie bei vielen westlichen Politikern und Publizisten finden, verweist darauf, dass auch diese sich mit einem solchen quantitativ beschränkten Demokratiebegriff zufriedengeben. Der Grund für diese Akzeptanz ist der bereits bei al-Bannā angelegte Antikommunismus und eine neoliberale Wirtschaftsideologie, die soziale Widersprüche nicht systemisch, sondern durch private Charity lösen will. So trat al-Bannā zwar für die Ägyptisierung, aber nicht für die Verstaatlichung des Suezkanals ein. Alle Islamisten erklären Steuern für unislamisch, weil sie nicht im Koran erwähnt sind und plädieren für freiwillige Abgaben der Vermögenden.

Gudrun Krämer: Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Bannā und die Muslimbrüder. Eine Biografie, C. H. Beck, 528 S., geb., 34 €.

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