- Kultur
- »Gehen und Bleiben«
Uwe-Johnson-Doku: Der doppelte Blick auf die Geschichte
In der Doku »Gehen und Bleiben« spürt Volker Koepp dem Werk des Schriftstellers Uwe Johnson nach
Das Land der Griechen mit der Seele suchen» wollte Goethe in seiner «Iphigenie auf Tauris». Ein späterer Autor, Uwe Johnson, Gestrandeter an Ufern, von denen er nie geträumt hatte, suchte im New York der späten sechziger Jahre sitzend, Mecklenburg mit der Seele. Zur Verkörperung dieser unbehausten Sehnsucht wird ihm Gesine Cresspahl aus Jerichow, die Hauptperson seines vierbändigen Werkes «Jahrestage». Ein Schattenbild der Erinnerung.
Auf die Spur dieser Schattenbilder begibt sich nun der Regisseur Volker Koepp mit «Gehen und Bleiben. Uwe Johnson. Folgen des Krieges». Kann man gehen und zugleich bleiben? Ein Autor, der aus seinen Erinnerungen schöpft, kultiviert dieses Paradox. Landschaften sind für ihn geschichtliche Räume. Diesem Anspruch folgt auch der 1944 in Stettin geborene Koepp in seinen vielen Dokumentarfilmen auf ganz eigene Art. Er besitzt jenes Talent für Menschen, das man an Tschechow rühmte. Denn jeder Mensch ist mit seiner Herkunft und seinen Sehnsüchten ein eigenes Universum. Man muss sich die Zeit nehmen, dieses kennenzulernen und nicht vorschnell zu urteilen. So komponiert Koepp dann seine Filme: Nie benutzt er die Menschen, mit denen er spricht, er gibt ihnen den Raum, den sie brauchen, um von sich zu sprechen. Das dauert so lange es dauert. Koepp drängt sie nicht auf einen imaginären Punkt hin, er hört einfach zu. Darum sind seine Arbeiten oft so lang, nicht selten auch in Fortsetzungen gedreht wie die «Wittstock»-Filme. Frauen in der Textilindustrie, Lehrzeitbeginn mit sechzehn und dann bis zur Rente immer vor der Nähmaschine. Wovon träumt man da?
Die «Wittstock»-Filme entstanden zwischen 1975 und 1997. Es sind nicht nur Filme über Biografien im Wandel geworden, sondern auch die Chronik eines untergehenden Landes aus Perspektive arbeitender Frauen. Cineastische Höhepunke waren dann «Herr Zwilling und Frau Zuckermann» (1999), zwei eindrucksvolle Biografien aus Czernowitz. Und weil Koepp es immer genau wissen will, kam er einige Jahre später wieder, um «Dieses Jahr in Czernowitz» (2004) zu drehen. Filme über die Kurische Nehrung, die Uckermark oder Johannes Bobrowskis «Sarmatien». Allesamt feinfühlige Erkundungen, die Biografien und Landschaften zusammenbrachten. Bei vielen seiner Filme arbeitete er mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen großen Kameramann Thomas Plenert zusammen.
Nun also ein Film über Uwe Johnson, aber nicht als genuines Dichter-Porträt, sondern wieder als ein weit schweifendes Schauen und Nachfragen bei Menschen, die ihn kannten oder auch nur heute an jenen Orten leben, die für Johnson prägend wurden. So wie die Schriftstellerin Judith Zander aus Anklam. Es sind viele, die Koepp trifft, fast möchte man meinen, zu viele, die in diesem zweieinhalbstündigen Film Johnsons Wortmagie umkreisen.
Der Schauspieler Peter Kurth, aufgewachsen in Goldberg, liest Johnson-Texte und geht mit Koepp durch einen Ort, der nicht mehr der ist, der einmal war. Und doch, irgendetwas muss in diesem Wechsel gleich bleiben? Das jedenfalls war einer der Stachel in Johnsons Schreiben. Wie auch der frühe Verlust des Vaters, der 1945 im vom sowjetischen Geheimdienst betriebenen «Speziallager Nr. 9 Fünfeichen» bei Neubrandenburg interniert wurde – und nie mehr nach Hause kam. Seltsam, auch mein Vater war zwischen 1945 und 1948 (als das Lager aufgelöst wurde) dort interniert, auch für ihn ging die Odyssee noch Jahre weiter, aber er überlebte mit Glück, und so kenne ich jene Geschichten, die Johnsons Vater mit ins Grab nahm und die dem Sohn so offensichtlich fehlten.
Johnsons Bekenntnis aus den letzten Lebensjahren im englischen Sheerness on Sea klang für manchen verwunderlich, aber es kommt wohl aus jenem Bilderstrom, der in der Fremde übermächtig wird: «Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin.»
Warum, so könnte man nun fragen, ist er dann 1959 über die noch offene Grenze nach Westberlin gegangen; seinem Buch «Mutmaßungen über Jakob» hinterher, das im gleichen Jahr im Suhrkamp Verlag erschien? Warum blieb er nicht in der DDR wie andere Autoren mit einem zunehmend komplizierten Verhältnis zur SED-Kulturpolitik wie Stefan Heym, Christa Wolf, Stephan Hermlin oder Heiner Müller?
Johnson war wohl der erste DDR-Autor, der bereits Mitte der 1950er Jahre wusste, so wie er über die DDR schrieb, würde man es nicht drucken. Aber auch «Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953», Johnsons Erstling, den er mit neunzehn Jahren schrieb, blieb bei Suhrkamp lange ungedruckt und erschien erst postum. Der Westen tat sich schwer mit ihm, oder wie der Theaterkritiker Thomas Irmer – inmitten der Szenerie der Leipziger Bahnhofsbuchhandlung – bemerkt: Der Literaturbetrieb im Westen behandelte Johnson gut, aber verstand ihn schlecht.
Johnson ging also mit Gesine Cresspahl, die bereits in «Mutmaßungen über Jakob» vorkommt, in den Westen, wo sie für die Nato arbeitet. Das wiederum bringt den in der DDR gebliebenen Jakob ins Visier der Staatssicherheit. Jakob, der, wie es heißt, immer «quer über die Gleise ging», läuft schließlich vor einen Zug, bringt sich angesichts des wachsenden deutsch-deutschen Unbehagens um. Züge und Fahrpläne spielen bei Johnson immer eine große Rolle, sie enthalten die Koordinaten einer Wegsuche, die oft im Weglosen endet.
Geschichte wie sie Johnson beschäftigt, ist keine Idylle. Das zeigt die Beschreibung des Untergangs des Dampfers «Cap Arcona», bei dem am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht Tausende Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme in der Ostsee ertranken, minutiös bis zu Unerträglichkeit. Kann man danach je wieder Ostseefisch essen? Krieg ist der große Zerstörer, lebenslang blieb er Johnsons dunkler Schatten, den er überallhin mitnahm.
In Güstrow besuchte das Flüchtlingskind Johnson aus dem pommerschen Cammin die Oberschule, studierte erst in Rostock, dann in Leipzig bei Hans Mayer, der sofort Johnsons besonderes Talent erkannte. Er schrieb seine Abschlussarbeit über einen anderen Güstrower, der zwischen Bleiben und Weggehen schwankte: Über Ernst Barlach und sein hinterlassenes Romanfragment «Der gestohlene Mond». Wie nahe sich beide Autoren waren, in ihrem surreal-sperrigen Blick auf die Provinz (die der Herzen und die jenseits der Großstädte). Das Kleinste und das Größte zusammenzubringen, die Beter und die Bettler und auch die skurrilen Sinnsucher von heute, dieser Anspruch verband sie.
Dietrich Sagert, der in den 1980er Jahren in Güstrow sein Abitur machte, Bausoldat wurde und Theologie studierte, vollzog dann jedoch einen Spurwechsel, der etwas von einer Johnson-Nachfolge hat. Auch er ließ Mecklenburg zurück, ging nach Frankreich, promovierte über Andrej Tarkowskis Filme, las nach seiner Rückkehr die «Jahrestage» und erkannte darin die Grundmuster seiner eigenen Jugend wieder: Die Konfrontation der FDJ mit der Jungen Gemeinde, wenn auch nicht mehr so aggressiv wie in den 1950er Jahren, aber das Zeichen «Schwerter zu Flugscharen» der kirchlichen Friedensbewegung galt als Provokation. Es gab immer noch kollektive Ernteeinsätze, die Pflicht waren, inszenierte «Aussprachen» mit ideologischen Abweichlern, es gab die Fluchtbewegung vieler in Kunst und Literatur.
Ein weites Panorama, das Volker Koepp hier entfaltet, eines mit einem doppelten Blick auf Johnsons literarisches Werk und zugleich auf die Schicksale der Menschen, die es bewohnen. Kein Film für Eilige, sondern für jene, die sich bereits im Dialog mit ihrer eigenen Geschichte befinden.
Nur etwas erweist sich dabei als störend, geradezu fahrlässig im Umgang mit Biografien: das Fehlen von Namensnennungen der Vielen, die hier zu Wort kommen (ein Mangel, dem leicht abzuhelfen wäre). So muss man erst mithilfe von Google mühsam die Gesichter des Films den Namen im Abspann zuordnen. Das hätte dem alles präzise dokumentierenden Johnson nicht gefallen.
«Gehen und Bleiben. Uwe Johnson»: Deutschland 2023. Regie: Volker Koepp. Mit: Stuart Roberts, Judith Zander, Erhard Siewert, Peter Kurth, u.a.. 179 Minuten. Start: 20.7.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.