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Özge Inan: Trauer und Freude
»Natürlich kann man hier nicht leben«: Der Debütroman von Özge Inan über postmigrantische Erfahrungen überrascht und überwältigt
Wann immer eine neue Lektüre eines neuerdings verbreiteten Genres, hier die sogenannte postmigrantische Literatur, angekündigt wird, ist der Zynismus nicht fern. Der erwartete Absatz zwingt nämlich nicht zur literarischen Qualität. Wie in anderen Genres der Populärliteratur werden viel zu oft plump die Seiten gefüllt, im schlimmsten Fall mit verschiedenen Modifikationen der Selbstbeweihräucherung. Das ist bedauerlich, da es angesichts der gefährlich wachsenden reaktionären Stimmung eine gute und klare postmigrantische Literatur braucht. Genau diese gute Literatur hat Özge Inan auf Papier gebracht, mit ihrem Roman »Natürlich kann man hier nicht leben«.
Statt es besser zu machen als andere, macht sie es schlicht richtig. In ihrem Debütroman erzählt Inan die Geschichte einer nach Deutschland geflüchteten Familie aus verschiedenen Perspektiven. Sie reichen von Nilay, der jungen Postmigrantin heutiger Generation in Berlin, über den älteren Bruder Emre und den Eltern Selim und Hülya, die in den 1990er Jahren nach Deutschland migrierten, bis hin zur Familie in der alten Türkei.
Die Geschichte spielt 2013. Nilay sieht in den Medien die Bilder von den Protesten gegen die autoritäre Politik der Erdoğan-Regierung auf dem Taksim-Platz in Istanbul und will dort hinreisen. Doch diese Geschichte beginnt nicht mit ihr allein, sondern umfasst die Entscheidungen, Ängste, Wünsche und unausgesprochenen Wahrheiten ihrer ganzen Familie. Auch ihre Eltern waren früher in der Türkei politisch aktiv.
Damit begegnet die Autorin der vielfach verklärten eindimensionalen »migrantischen Perspektive« mit einer literarischen Komplexität, die den Dynamiken einer Familie, zwischenmenschlichen Beziehungen und dem allgemeinen politischen Kontext gerecht werden. Darauf weist auch der Titel des Romans hin. »Natürlich kann man hier nicht leben« – diese Erkenntnis hat so starke Auswirkungen, dass hier nicht mehr von der spannenden Handlung verraten werden soll.
So viel darf aber gesagt sein: Als Autorin verfolgt Inan ein mutiges Konzept, das leicht auch hätte scheitern können. Denn ihre Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Generationen im Hinblick auf ihre politische Sozialisation bietet genug Raum für Idealisierung, naiven Heldenkult oder einfacher Falschdarstellung. Stattdessen aber schreibt sie sehr nuanciert, dicht und klar, sodass auch die teilweise etwas weitausholenden Adjektive und Adverbien nicht stören.
Özge Inan ist Jahrgang 1997 und wurde mit politischen Botschaften auf Twitter bekannt, gegenwärtig ist sie Redakteurin des »Freitag«. Ihren Debütroman hat sie wie ein Theaterstück strukturiert, die entscheidenden Szenen zu eigenen Kapiteln geformt – mit pointierten Dialogen und kontrastreichen Szenenwechseln, die teilweise überraschen, ja sogar überwältigen. Es gelingt ihr, die Protagonist*innen sowie das politische und familiäre Umfeld so einfühlsam zu beschreiben, dass die heutigen Leser*innen eine ihnen fremde Welt in all ihrer vermeintlichen Unordnung verstehen lernen.
Dieser Einblick in die Türkei der Militärdiktatur der 1980er aus der Perspektive der damaligen politisierten Jugend schließt hierzulande die Lücke, die bislang in der politischen postmigrantischen Literatur noch klaffte. Einzelne im Roman geschilderte dramatische Ereignisse wie die Verhaftung eines geliebten Menschen, polizeiliche Durchsuchungen, Straßenschlachten, die lächerlich anmutende Bespitzelung durch den Staatsapparat als auch der zwar absurde aber nicht minder ernstzunehmende Zusatz »PS: Niemand gestorben« in vergangenen Briefwechseln dürfte einigen Postmigrant*innen aus den Schilderungen ihrer Elterngeneration bekannt sein. Doch die Konzentration dieser Anekdoten trägt durchaus zum Verständnis der eigenen Person und der Politisierung bei.
Zumindest in mir wurde bei der Lektüre eine Trauer erweckt wegen der Spiegelung ähnlicher Geschichten aus meinem Umfeld; aber auch eine Freude wegen deren klarer und kraftvoller Darstellung. Als der Roman zu Ende war, blieb in mir der unbedingte Wunsch nach einer Fortführung. Hundert weitere Seiten hätten dem Roman nicht geschadet.
Gekonnt bringt Inan die Erlebnisse ihrer Protagonist*innen in einen politischen Kontext, jedoch ohne diese persönlichen Geschichten als reines Vehikel der politischen Agitation zu missbrauchen. Mit »Natürlich kann man hier nicht leben« hat die Autorin einen überaus gelungenen Debütroman als eine sehr respektable Verarbeitung (post-)migrantischer politischer Sozialisation geschrieben – und nebenbei ihre schriftstellerische Kunstfertigkeit etabliert. Özge Inan ist kein Phänomen des kurzlebigen Internet-Humors, sondern eine ernstzunehmende Akteurin in der politischen Debatte.
Özge Inan: Natürlich kann man hier nicht leben. Piper Verlag, 240 S., geb., 24 €. Buchvorstellung am heutigen Donnerstag um 19 Uhr in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Straße der Pariser Kommune 8A, Berlin. Es moderiert die Musikjournalistin und Podcasterin Miriam Davoudvandi
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