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»Medea«: Die entfesselte Kraft des Negativen
Beim Athen Epidauros Festival zerlegt Frank Castorf im Amphitheater »Medea« und setzt den Klassiker angereichert und erweitert neu zusammen
Die lädierten Insignien der westlichen Welt ragen in den Abendhimmel. Die Coca-Cola-Leuchtreklame ist zerbrochen, ein Teil baumelt wie an einem dünnen Faden nach unten, wo sich das mit Marmor eingefasste Halbrund des Theaters von Epidauros befindet. Das besterhaltene der antiken Amphitheater Griechenlands wird tagsüber nicht nur von Horden archäologisch interessierter Touristen heimgesucht, seit den 50er-Jahren wird hier beim Athen Epidauros Festival regelmäßig Theater gespielt – wegen der hochsommerlichen Hitze allerdings erst nach Sonnenuntergang.
An diesem Wochenende ist es so heiß, dass in Athen die Akropolis und andere antike Stätten, die in jedem Reiseführer zu finden sind, geschlossen wurden. Die Temperaturen klettern auf über 40 Grad, auch in der Nacht kühlt es nicht unter 30 Grad ab. Wälder brennen. Tausende Zuschauer haben sich trotzdem auf den Weg nach Epidauros gemacht, um Frank Castorfs Inszenierung von »Medea« zu sehen. Der von unzähligen Schuhen aufgewirbelte Staub umhüllt die Bäume beim Aufstieg, der Blick lichtet sich und auf dem Hügel erscheint nun das Theater. Steile Marmortreppen führen nach oben, der Stein strahlt noch die Hitze des Tages ab.
Der antike Mensch suchte in Epidauros Heilung von seinen körperlichen und seelischen Gebrechen. Das heilige Gelände war Asklepios geweiht, dem berühmten ersten Arzt, dessen Schlangenstab heute die Apotheken ziert und dessen Namen man von rücksichtslosen Klinikkonzernen kennt. Das Theater sollte nicht nur das Unterhaltungsprogramm der Kurgäste liefern, sondern auch einen Nutzen haben – eine Art Katharsistherapie. Der postmoderne Mensch sucht hingegen weder Heilung noch Katharsis, sondern nur die nächste Räumlichkeit mit Klimaanlage oder einen geeigneten Selfie-Hintergrund.
In der Internet-Kultur gibt es ein Meme: How it started vs. How it’s going – wie es begann und wie es läuft. Also eine kurze Geschichte des Westens, von der Wiege der europäischen Kultur bis zu den Ruinen von Coca-Cola. Nun will Castorf nicht vom Untergang des Abendlands erzählen, von dem niemand weiß, wo es beginnt und endet – weder räumlich noch zeitlich. Doch mit Euripides, dem großen Psychologen unter den antiken Dramatikern, geht Castorf zum Ursprung zurück, der sich durch die Geschichte hindurch immer wieder erneuert. Die Stationen: Arthur Rimbaud, der griechische Bürgerkrieg und Heiner Müller.
Es ist ein Abend, der auf vielen Ebenen abläuft. Im Text sind das Euripides, Rimbaud, Müller. Im Bild ist es das Geschehen auf der Bühne, auf der Leinwand dahinter und auf den Aufstellern für die Übertitelung, auf die auch das griechische Publikum angewiesen ist, immerhin wird Rimbauds »Böses Blut« aus »Eine Zeit in der Hölle« im französischen Original dargeboten. Für manche ist das mindestens eine Ebene zu viel, es gibt einen stetigen Abstrom des Publikums, der mit den meteorologischen Begleitumständen nicht hinreichend erklärt wäre. Wohl eher mit einer Überdosis »German Theatre«, das genau genommen eine ostdeutsche Erfahrung ist.
Das Athen Epidauros Festival hat sich seit seiner Gründung in der Nachkriegszeit – und zudem der griechischen Nachbürgerkriegszeit – der Pflege des klassischen antiken Dramas verschrieben. Und offensichtlich wird Castorfs Regiezugriff – der auf Zertrümmern und Neuarrangieren basiert – von manchen als ungefähr so pfleglich empfunden wie der Einsatz eines Presslufthammers auf der Akropolis, um aus den alten Steinen ein paar neue Figuren zu formen. Solche Reaktionen gab es auch in der Bundesrepublik, bevor Castorf kanonisiert wurde und im Ausland als würdiger Vertreter deutscher Theaterkunst galt.
Ist es zu viel Gegenwart für eine Klassikerinszenierung? Auf der Leinwand sind Szenen aus dem heutigen Griechenland zu sehen. Stacheldrahtbewehrte Zäune mit Kameras – anders als die sich aus Brücken und Fenstern zusammensetzende offizielle Ikonografie reale Bilder des politischen Europas –, dahinter eine Ansammlung von Schiffscontainern oder Häuserkästen. »Fickzellen mit Fernheizung«, auch dieses Müller-Bonmot bekommt man an diesem Abend zu hören. Inwieweit die brutale Abschottung in die griechische Gegenwartskultur eingesickert ist, kann man in einem neuen Athener Techno-Club sehen, eingerichtet mit Käfigen aus nackten Metallzäunen bis zur Decke – eine unheimliche Nähe zu den Bildern in Castorfs »Medea«.
Der Boden der Bühne ist bedeckt mit leeren Plastikflaschen, dazwischen stehen billige Zelte. Es sieht aus wie in den griechischen Flüchtlingslagern, allerdings an einem Ort der Hochkultur. Auch das weckt Unmut im griechischen Publikum, obwohl die Flaschen nach und nach von den Schauspielern beiseitegeschoben werden und einen staubig-lehmigen Kreis in der Mitte freigeben – die unterm Gegenwartsmüll verschüttete, aber nicht verschwundene Orchestra. Castorf will den Konflikt freilegen, um den das Drama kreist. Er entweiht den Stoff, jedoch um den Gehalt zu retten. Man kann es wahrhafte Ehrerbietung nennen.
Ohne Scheu vor Trash und mit Interesse an den Tiefenschichten des Stoffs, so lassen sich Klassiker ergiebig gebrauchen – anstatt sie für 15 Jahre aus dem Theater zu verbannen, wie der Regisseur Christopher Rüping kürzlich forderte, oder sie als Heiligtümer zu deklarieren, wie es offenbar beim Athen Epidauros Festival vom Publikum teils erwartet wird. Überraschend wird das nicht gewesen sein. Sind noch Zuschauer da?, fragt ein Schauspieler in einer Szene, die hinter der Bühne in einer Bude gefilmt wird, die wie ein Stripclub eingerichtet ist. Gelächter und Applaus der Verbliebenen sind die Antwort.
Für »Medea« hat Castorf ein vertrautes Team um sich geschart. Aleksandar Denić hat die Bühne gestaltet, die sich zwar nicht dreht, aber mit den Zelten und dem Stripclub Innenräume bietet, die Andreas Deinert mit der Kamera wirkungsvoll in Szene setzt, was Lothar Baumgarte auch beim Licht gelingt. William Minke hat – wieder einmal! – die unglaublich atmosphärische Musik ausgewählt, die den Takt vorgibt. Allein dafür will man den Abend noch einmal sehen oder hören. Und Adriana Braga Peretzki lässt die Schauspieler immer wieder in neue Kostüme schlüpfen, die an Glamour und Glitzer wirklich nicht sparen.
Die acht Schauspieler sind in Griechenland aus Film und Fernsehen bekannt, unter anderem standen sie bei Giorgos Lanthimos vor der Kamera, bevor der Filmemacher auf Englisch große Erfolge wie »The Favourite« feierte. Medea wird von allen fünf Frauen gespielt, ebenso Glauke und die Kinder. Die drei Männer übernehmen unter anderem Jason, Kreon, Aigeus und die Amme. Diese Anordnung enthebt Medea der Heldenrollen und lässt sie zur kollektiven Rolle werden, ähnlich hatte es Castorf bereits mit den vielen Gretchen bei seinem »Faust« gemacht. Es betont die erste Ebene seines Medea-Modells: den Geschlechterkampf.
Wie in den abgründigen Beziehungsdramen August Strindbergs entfaltet sich eine zerstörerische Kraft, angetrieben und nicht etwa gehemmt durch den rätselhaften Sog der Liebe – bis zum erschütternden Finale des Kindsmords. Die Zeichen stehen von Beginn an auf Katastrophe, ein neongrüner Kinderwagen mit Messer wartet inmitten des Mülls. Doch wie Pier Paolo Pasolini in »Medea« eine Dialektik von Mythos und Aufklärung entdeckte, fragt auch Castorfs Medea-Modell nach den Grundlagen des menschlichen Gemeinwesens – und den Momenten der Barbarei, die sich darin verbergen. Das ist die nächste Ebene: Politik.
Jason hat nicht nur Medeas Herz erobert, er hat sie zum gemeinsamen Brudermord angestiftet, außerdem die Reich- und Heiligtümer ihres Landes geplündert. Für Medea gibt es nur den Weg nach Korinth, keinen zurück. Verrat begleitet sie. In Korinth herrscht Kreon, der aus staatspolitischen Überlegungen die Heirat des Argonautenhelden mit seiner Tochter Glauke und die Verbannung Medeas forciert. Man muss nicht nur Fremdes erobern, sondern auch Fremdes ausstoßen, um das Imperium zu festigen. Und ob Medea will oder nicht, für das Imperium ist sie, was sie unwiederbringlich verraten hat: eine aus Kolchis.
Diese Logik des Hineinziehens und Ausstoßens nennt man wohl imperial – oder imperialistisch. Sie gilt im Inneren der Staaten und im Verkehr unter ihnen: Integration, die nicht gelingen kann. Gerade noch mit Freiheit und Demokratie gelockt, bleibt nur das bittere Ende in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt und kein Weg zurück. Eine postsozialistische Erfahrung, die Castorf in Epidauros auf die Bühne bringt – vor allem mit Heiner Müller. Neben »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten« werden »Der Engel der Verzweiflung«, Auszüge aus »Der Auftrag« und auch »Herzstück« verwendet.
Und es gibt noch eine Ebene: den Aufstand. Von Müllers »Mein Flug ist der Aufstand« über die Kommunisten im griechischen Bürgerkrieg, die als Partisanen gegen die Nazis kämpfen, bis zu Rimbaud, der nach der Niederschlagung der Pariser Kommune den Fortschritt verabschiedet und aus Europa flüchtet. »Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerika sind ich«, antwortet Heiner Müller auf Rimbauds »Ich ist ein Anderer«. Nichts ist mächtiger, verstörender und auch anziehender als die entfesselte Kraft des Negativen, die Wut und der Hass. Und die betreten mit »Medea« die große Bühne der menschlichen Kultur.
All das und noch mehr erzählt Castorf in für ihn ungewöhnlich kurzen drei Stunden. Es sind drei spannende, aufwühlende, schöne – kurz: drei große Stunden für das Theater unter dem Nachthimmel von Epidauros.
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