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Wenn die zähe Zeit das Atmen erschwert

Ein grausames Jahrhundertleben: »Blutrache«, autobiografische Erzählungen von Angela Rohr

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Angela Rohr wurde Sowjetbürgerin aus Überzeugung und leugnete in den Verhören alle Vorwürfe.
Angela Rohr wurde Sowjetbürgerin aus Überzeugung und leugnete in den Verhören alle Vorwürfe.

Geboren wird sie 1890 in Niederösterreich als Angela Müller. 1985 stirbt sie als Angela Rohr mit 95 Jahren in Moskau. Dazwischen liegt ein grausames Jahrhundertleben. Das literaturbegeisterte Mädchen schwärmt für Karl Kraus und Literatur, sitzt – nachdem die Familie nach Wien umgezogen ist – am liebsten im Café Central, wo sich die Boheme trifft. Hier lernt sie den erfolglosen Dichter Leopold Hubermann kennen, den sie mit 19 Jahren heiratet – die Zeit von Hunger und Entbehrung, die bis an das Ende ihres langen Lebens andauern wird, nimmt hier ihren Anfang.

Rainer Maria Rilke trifft sie am 30. Dezember 1919 in Locarno in einem Buchladen; er ist soeben aus München in die Schweiz gekommen. Sie heißt jetzt nach ihrem zweiten Mann Angela Guttmann. Rilke ist von der »Russin«, für die er sie hält, sofort fasziniert. Sie hat kein Geld und ist schwer krank. Für einige Monate sind sie ein Paar, aber die junge Frau ist eher ein Pflegefall als eine Geliebte. Im Frühjahr 1920 lässt er sie in Locarno zurück, er will sich mit ihr nicht belasten. Lange Zeit galt in der Rilke-Forschung, dass sie kurz nach ihrer Trennung gestorben sei.

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Aber nein, sie lebte noch 65 schwere Jahre weiter, ging mit ihrem dritten Mann nach Moskau und hieß nun Angela Rohr. Sie hatte etwas Medizin studiert, arbeitete daher als Assistentin am Tirmirjasew-Institut und schrieb von 1928 bis 1936 Feuilletons für die »Frankfurter Zeitung«. Immer suchte sie nach einem starken Glauben; vom Katholizismus kam sie zum Judentum, dann zum Kommunismus. Aus Überzeugung wurde sie Sowjetbürgerin.

Dann die doppelte Katastrophe: Der Stalinismus ließ nichts Kosmopolitisches mehr zu, aber als Kosmopolitin bezeichnete sie sich. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion wurde sie im Juli 1941 verhaftet und als feindliches Element (zwischen Deutschen und Österreichern unterschied man nicht, schließlich war auch Hitler Österreicher) wegen Spionage zu fünf Jahren Straflager und lebenslanger Verbannung verurteilt. Von der Odyssee des Gefangenentransports in den Kriegswirren nach Sibirien erzählen zwei der im Band »Blutrache« versammelten sieben Erzählungen, die von einem biografischen Essay der Herausgeberin Gesine Bey ergänzt werden. Im Aufbau-Verlag hat Bey bereits »Das Lager«, Rohrs Bericht über die Jahre im Gulag, herausgegeben.

Es sind Berichte wie aus Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«. Tagelang werden die Gefangenen, in Eisenbahnwaggons gepfercht, durchs Land gefahren. Wegen der Enge können sie nicht sitzen, geschweige denn liegen, sind fast ganz ohne Essen und Trinken. Lange Fußmärsche von Bahnstationen zu immer neuen Gefängnissen folgen. Vor diesen müssen sie stundenlang warten, bis sie eingelassen werden, als wären diese rettende Herbergen. Doch hier kommen sie in Duschen, wo es nur kaltes Wasser gibt, erhalten lauwarme Wassersuppen, werden mit von der Desinfektion nassen Sachen in dunkle Keller gepfercht.

Viele sterben, aber die noch Lebenden sind so abgestumpft, dass sie das nur noch am Rande registrieren. Im Rückblick klingt in »Die Fahrt ins gelobte Land« das Erstaunen darüber mit: »Die Menschen starben leise und unmerklich, sie schwanden dahin, und es war uns schon fast selbstverständlich geworden, ihren Tod zur Kenntnis zu nehmen.«

Wie konnte diese zierliche, nur 1,50 Meter große Frau diese nicht enden wollende Schreckenszeit überleben? Vielleicht auch, weil sie bereits zuvor Hunger und Not erfahren hatte. In der in Paris spielenden Erzählung »Begegnung« heißt es: »Die Zeit war zäh, sie erschwerte das Atmen, sie legte sich mit ihrer ganzen Last auf sie.« Diese Zeit überwindet Angela Rohr nie, aber sie hält mit ihrem ganzen Lebenswillen dagegen.

Bei den Verhören, wo sich alles um ihre Tätigkeit für eine deutsche Zeitung drehte, gab sie nichts zu, unterschrieb trotz martialischer Drohungen kein Geständnis. Darum bekam sie auch »nur« fünf Jahre, was ihren Mitgefangenen lächerlich wenig erschien. Für Lappalien bekam man sonst schon mal 20 Jahre Haft, wie eine Bäuerin, die gehört hatte, Hitler sei ein »schöner Mann« und das in ihrer Naivität herumerzählte.

Die »Politischen«, meist Ausländer, die nicht wissen, warum sie hier sind, werden von den Wachen schlechter als jene Verbrecher behandelt, mit denen sie gemeinsam auf Transport sind. Die Menschen aus der Bevölkerung, auf die der Gefangenentreck trifft, beschimpfen sie als Verräter und Saboteure, für die jeder Bissen Brot zu gut sei. Mit den Verbrechern, den Dieben und Mördern, zeigen sie eher Mitleid.

In den 60er und 70er Jahren – Angela Rohr wurde 1957 aus der »ewigen Verbannung« entlassen und kehrte nach Moskau zurück – notiert sie, nun in einem winzigen Zimmer voller Bücher in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, lebend, mit erstaunlicher Akribie über den Transport in den Gulag: »Nur in Irrenhäusern stehen wohl Menschen derart abgetrennt von aller Welt, und dass wir bereits Irre waren, der eine weniger, der andere mehr, das war für mich klar.«

Der Glücksfall: Da sie Medizin studiert hatte, wurde sie als Lagerärztin eingesetzt, was ihre Überlebenschancen erhöhte. Davon berichtet sie in ihrem Buch »Das Lager«. Wie leicht hätte sich ihre Lebensspur verlieren können, hätte sie nicht im Zuge der Entstalinisierung begonnen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, von denen sie in der Sowjetunion jedoch nichts veröffentlichen konnte. Immerhin, 1962 erschien dort Alexander Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« über das Gulag-System, von dem nun niemand mehr behaupten konnte, dieses hätte es nie gegeben.

Angela Rohr bleibt in Moskauer Künstlerkreisen nicht unbekannt. Zu ihren Moskauer Bekannten gehören der Schriftsteller Konstantin Fedin und auch Sophie Liebknecht, die Witwe von Karl Liebknecht (auch diese war mit Rilke in München eng befreundet gewesen). Hans Martes von der österreichischen Botschaft versorgt sie mit Kaffee und Medikamenten – und er schmuggelt auch ihre nun endlich gedruckt vorliegenden Manuskripte außer Landes.

Noch als über 90-Jährige hat sie ein Stethoskop griffbereit, behandelt Hausbewohner für 10 Rubel und bessert so ihre 45 Rubel Rente auf. Sie ist kein gebrochener Mensch – eine Art innerer Prophetie hält sie aufrecht. Und ein Kerzenständer, den ihr Rilke schenkte und der auf obskuren Wegen die Zeiten überdauerte. Dieser ist ihre Reliquie aus einer längst vergangenen Zeit, die sie Besuchern stolz vorführt. Was ihren Klarblick auf den sie einst in Locarno als unwillkommene Last zurücklassenden Dichter nicht trübt, den sie rückblickend als »Snob« und »unruhigen Geist« charakterisiert, der das »große Gehen« gehabt habe. Es klingt wie eine Krankheitsdiagnose.

Angela Rohr: Blutrache. Späte Erzählungen. Hg. v. Gesine Bey. Basisdruck-Verlag, 210 S., br., 22 €

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