Die Welt ist eine Wassermelone!

Food for Thought (Teil 3): Wie die Wassermelone unsere Sicht auf die Welt veränderte

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 4 Min.
Sie ist unfassbar groß, wirkt spröde und undurchdringlich und auch ein wenig langweilig.
Sie ist unfassbar groß, wirkt spröde und undurchdringlich und auch ein wenig langweilig.

Es war der 6. Juni 1971, an dem der Präsident der Offenbacher Kickers eine Bombe platzen ließ. Auf der Feier zu seinem 50. Geburtstag spielte er heimlich aufgenommene Telefonate vor. Die Gäste, unter ihnen BRD-Bundestrainer Helmut Schön, staunten nicht schlecht: Spieler gegnerischer Vereine waren bestochen worden, um beim Abstiegskampf dem Glück ein wenig nachzuhelfen. Über 50 Fußballer hatten Schmiergelder erhalten, darunter die ehemaligen Nationaltorhüter Manfred Manglitz und Volkmar Groß. Weil die Offenbacher Kickers bei diesem Bieterverfahren am Ende den Kürzeren zogen und abstiegen, machte Canellas den Bundesligaskandal öffentlich.

Zwei Details sind dabei auch für den Nicht-Fußballfan bemerkenswert. Zum einen Canellas’ ungewöhnliche Vornamenkombination Horst Gregorio – ein Beispiel für eine gelungene (wenn auch linguistisch fragwürdige) deutsch-spanische Familienverbindung. Zum anderen der damals obligatorische Hinweis, Canellas sei Südfrüchtehändler – eine Berufsbezeichnung, die in jenen Tagen Kopfkino auslöste. Und Sehnsucht. Denn im typischen westdeutschen Lebensmittelladen der frühen 70er war es mit exotischen Früchten nicht weit her. Es gab keine Kiwis, keine Mangos, keine Papayas, keine Kakis und keine Sternfrüchte. Ja, nicht einmal Grapefruits waren erhältlich, sondern nur die deutlich saureren Pampelmusen. (Die Grapefruit ist übrigens eine Kreuzung aus Pampelmuse und Orange und daher süßer, die Orange wiederum ist eine Kreuzung aus Pampelmuse und Mandarine. Daraus lernen wir: Am Anfang war die Pampelmuse.)

Vor allem aber gab es keine Wassermelonen. Um die zu essen, musste man nach Spanien fahren. Wohlgemerkt: fahren. Eine Flugreise hätte sich die klassische bundesdeutsche Mittelschichtfamilie Anfang der 70er Jahre nicht leisten können. Also verfrachtete man unter Aufbietung aller Kräfte (und mit viel Improvisation) mehrere Koffer plus Nachwuchs in einen viel zu engen VW Käfer, der selbstverständlich keine Klimaanlage hatte. Während der Fahrt wurde viel geraucht, meist bei geschlossenem Fenster. Wir überlebten es (die Gefahren des Passivrauchens werden gemeinhin überschätzt). Zwischenstopps waren selten, schließlich wollte man schnell ankommen. So übte man sich im Blasentraining.

Food for Thought

In unserer diesjährigen Sommerreihe widmen wir uns der Kulinarik – in ihrer sinnlichen, sozialen und politischen Dimension.

Derart schikanöse Transporte über 1200 Kilometer und mehr würden heute den Kinderschutzbund auf den Plan rufen. Wir aber muckten nicht auf; wir kannten es ja nicht anders.

Die Ankunft im Paradies entschädigte für alles. Natürlich waren uns Sand und Wasser nicht fremd. Immerhin hatten wir viele Stunden unseres Lebens in Sandkästen und Freibädern zugebracht. Doch Strand und Meer hatten eine andere Qualität. Wir, die wir nur die Enge deutscher Städte und Mittelgebirgslandschaften kannten, staunten über die unendliche Weite, die sich hier auftat. Wir hätten es nicht in Worte fassen können, doch zum ersten Mal in unserem Leben spürten wir, was es bedeutet, wenn sich der Horizont erweitert. Eine wichtige Lektion: Es gab dort draußen eine ganz andere, aufregendere Welt als die uns vertraute.

Sicher hätten jene, die an der spanischen Küste nicht Urlaub machten, sondern arbeiten mussten, dies anders gesehen. Der tägliche Existenzkampf wird nicht dadurch angenehmer, dass das Meer rauscht und der Himmel lacht. Und wer definitiv kämpfte, war der Wassermelonenmann. Jeden Tag schleppte er sich bei sengender Mittagssonne, beladen mit zahllosen Melonenstücken, den Strand entlang und brüllte mit der Dezibelzahl eines frisierten Mofas: »¡Melones! ¡Melones!« Wir bewunderten seine Stärke und die Kraft seiner Stimme, aber mehr noch seine Ware. Wie mickrig und trostlos war ein deutscher Einzelhandelsapfel, verglichen mit diesen leuchtend roten Scheiben, die schon tropften, noch ehe man hineingebissen hatte.

Das Verspeisen selbst war eine einzige Sauerei, bei der danach der ganze Körper klebte – also das reinste Vergnügen. Wer hätte das gedacht: Obst konnte Spaß machen! So lernten wir durch die Wassermelone eine weitere Lektion: Von Zeit zu Zeit konnte es nicht schaden, sich von Vor-Urteilen zu verabschieden. Auch begriffen wir, dass man dem äußeren Schein nicht immer trauen sollte. Wer würde im Innern dieser tannengrünen Kugel derart Köstliches vermuten!

Viele Jahre später erfuhr ich, dass es im Spanischen die Redewendung gibt: »Die Welt ist ein Taschentuch.« Aber das ist Quatsch. In Wahrheit ist die Welt eine Wassermelone: Sie ist unfassbar groß, wirkt spröde und undurchdringlich und auch ein wenig langweilig, doch wenn man sich durch ihre Oberfläche hindurchgekämpft hat, kann sie die pure Freude sein.

Lang schon muss man nicht mehr nach Spanien fahren, um diese Freude zu erleben. Man braucht auch nicht mehr Weltenbummler wie Horst Gregorio Canellas, die das exotische Obst auf verschlungenen Wegen nach Alemania bringen. Der Südfrüchtehändler gehört inzwischen zu den ausgestorbenen Berufen. Jeder Supermarkt bietet Melonen feil, nicht nur Wasser-, sondern auch Honig-, Netz-, Cantaloupe-, Futoro- und Charentaismelonen (um nur die gängigsten Sorten zu nennen).

Und das ist die bitterste Lektion, die uns die Wassermelone vermittelt: Wenn etwas alltäglich wird, verliert es seinen Reiz.

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