Kindermangel an Londons Schulen

Die steigenden Lebenshaltungskosten in der britischen Metropole zwingen viele Familien zum Wegzug

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Für St Dominic’s Catholic Primary School war der Beginn der Sommerferien letzte Woche gleichzeitig das Ende und zwar das endgültige. Die Grundschule im Norden Londons hat für immer die Tore geschlossen. Die verbleibenden Kinder, es sind ein paar Dutzend, werden auf andere Schulen im Quartier verteilt. Der Grund für die Schließung: Kindermangel.

Die Schule hat Platz für 210 Kinder, aber zuletzt waren nur 121 Plätze besetzt. Das hat Auswirkungen auf die Finanzen. Schulen erhalten Geld vom Staat, es bemisst sich nach der Zahl der Kinder, die dort ausgebildet werden. Mit jedem Kind, das aus dem Quartier wegzieht und sich abmeldet, verliert eine Schule etwa 4000 Pfund. Am Ende war schlichtweg nicht genug Geld da, um die Institution am Leben zu erhalten – im Frühling fragte sich die Schulleitung von St Dominic’s sogar, ob sie die Strom- und Gasrechnungen weiterhin würde bezahlen können. »Mit großem Bedauern haben wir entschieden, am 31. August 2023 die Schule zu schließen«, kündigte die Schulaufsicht im April an.

St Dominic’s ist nicht die einzige Schule mit diesem Problem. In ganz London klagen die Rektoren über immer größere Lücken in ihren Schulbänken. Im Gemeindebezirk Hackney, im Osten der Stadt, sind insgesamt 634 Plätze unbesetzt – vor zehn Jahren waren es nur 10. Die Bezirksregierung erwägt, sechs Primarschulen zu schließen oder mit anderen Institutionen zusammenzulegen. Im Stadtteil Southwark, südlich der Themse, könnten bald sogar 16 Primarschulen schließen. Die Londoner Gemeinden warnen vor einer größeren Krise.

Der Notstand hat mehrere Ursachen. Es ist eine Kombination von hohen Wohnungspreisen, sinkender Geburtenrate, Pandemie und Brexit. Das Leben in der britischen Hauptstadt war schon immer teurer, aber für viele wird es zunehmend unbezahlbar. Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum ist seit vielen Jahren ein wachsendes Problem, insbesondere für jüngere Londonerinnen und Londoner. Die »Financial Times« hat kürzlich ausgerechnet, dass die 25- bis 39-Jährigen im Durchschnitt 36 Prozent ihres Nettoeinkommens für ihre Wohnkosten aufbringen müssen; vor 30 Jahren waren es noch halb so viel.

So werden immer mehr jüngere Leute aus London vertrieben, sie ziehen weg in billigere Orte in Südengland – mitsamt ihren Kindern. »Familien sind aus unserem Quartier weggezogen, weil sie sich die Miete nicht leisten können«, sagte die Rektorin Helen Connor, die eine Schule in Camden leitet, gegenüber der BBC. »Es gibt einfach nicht genug Kinder in unserem Bezirk.« Auch die Pandemie hat ihren Teil zu diesem Exodus beigetragen: Auf der Suche nach mehr Platz haben viele Leute, die es sich leisten können, dem urbanen Leben den Rücken gekehrt und sich in ländlicheren Gegenden ein geräumigeres Heim gesucht, vielleicht ein Haus mit Garten.

Das teure Leben in London – darunter auch die hohen Kosten der Kinderfürsorge – hat noch eine weitere Konsequenz: Immer mehr junge Leute entscheiden sich, keine Kinder zu haben. Zwischen 2012 und 2021 ist die Geburtenrate in der Hauptstadt um 17 Prozent gesunken. »Das wird weitere Auswirkungen haben auf die Nachfrage nach Primarschulplätzen«, schrieb die Organisation London Councils, die alle Londoner Gemeindebezirke vertritt, im Januar. Sie geht davon aus, dass es bei Neueinschulungen bis 2026 insgesamt einen Rückgang von 7,6 Prozent geben wird; »Das entspricht etwa 243 Schulklassen weniger.«

Und schließlich ist da der Brexit. Unter den Zehntausenden europäischen Londonern, die nach dem EU-Austritt in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind, sind viele Familien mit kleinen Kindern. Wie viele es sind, dazu gibt es keine verlässlichen Angaben, aber Schulvorsteher sagen, dass in den Jahren nach dem Votum 2016 eine bedeutende Zahl von EU-Familien ihre Kinder abgemeldet haben.

Am wichtigsten jedoch bleibt die Krise der enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten, besonders in den zentraleren Stadtbezirken. Diese drohen zu einer »kinderfreien Zone« zu werden, sagte Katherine Hill von einer Kampagne 4in10, die sich gegen Kinderarmut in der Metropole engagiert. Munira Wilson, Sprecherin für Bildungsfragen bei den Liberaldemokraten, fordert konkrete Maßnahmen von der Regierung in Westminster, um dies zu verhindern. »Die Regierung muss das Problem unter Kontrolle bringen, bevor es zu spät ist«, sagte sie. Auch Philip Glanville, Bürgermeister des Gemeindebezirks Hackney, hält eine Intervention von ganz oben für unerlässlich: »Wir brauchen echte Investitionen in Gemeindewohnungen, zudem müssen wir die Sozialleistungen den tatsächlichen Wohnkosten angleichen, und wir müssen den galoppierenden Mieten einen Deckel aufsetzen.«

Eine für Familien unerschwingliche Stadt würde auch jenseits der Schulen Folgen haben. Stadtplaner*innen haben festgestellt, dass urbane Räume, die auf Kinder zugeschnitten sind, auch für Erwachsene besser funktionieren. Wenn man den Blick eines 3- oder 10-jährigen Kindes einnimmt, dann habe man eine ganz andere Vorstellung davon, was eine gute Stadt ist, sagt die US-amerikanische Architekturkritikerin Alexandra Lange gegenüber der »Financial Times«. Eine Stadt, die entsprechend den Bedürfnissen von Kindern entworfen wird, »ermöglicht es einer weit diverseren Bevölkerung, hier zu leben, zu arbeiten und zu spielen.«

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