Rechtsanspruch auf Kita-Platz: Jahrhundertprojekt mit Mängeln

Die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz war ein Wendepunkt in der Kindererziehung

Seit zehn Jahren werden Kleinkinder vermehrt in Kitas betreut. Besonders im Westen war das zuvor nicht üblich.
Seit zehn Jahren werden Kleinkinder vermehrt in Kitas betreut. Besonders im Westen war das zuvor nicht üblich.

Eigentlich ist die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz für ein- und zweijährige Kinder eine Erfolgsgeschichte. Noch zu Beginn der Nullerjahre war die Betreuung von kleinen Kindern in der Kita vielerorts eine Ausnahme. Nicht einmal jedes zehnte Kind war in einer Krippe, in den westdeutschen Bundesländern sogar noch weniger, obwohl viele Eltern durchaus den Wunsch hatten, ihre Kinder schon früher in die Kita zu geben.

Mit dem Rechtsanspruch, den die Große Koalition 2008 mit dem Kinderförderungsgesetz nach einer lange geführten Diskussion und vielen Widerständen in der CDU und CSU verabschiedete, beschleunigte sich der Ausbau. Räumlichkeiten für neue Gruppen entstanden, die Sozialfachschulen bildeten mehr Erzieherinnen und Erzieher aus, doch zum Stichtag der Einführung am 1. August 2013 fehlten noch immer Tausende Plätze. »Gerade in großen Städten werden weitaus mehr Plätze benötigt als auf dem Land«, erklärte der damalige Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Stephan Articus. »Und der Bedarf wächst ständig weiter.« Auf 780 000 Betreuungsplätze wurde dieser damals geschätzt.

Obwohl die Plätze nicht ausreichten, blieb die befürchtete Klagewelle aus. Nur vereinzelt versuchten Eltern, ihren Anspruch auf einen Betreuungsplatz auf gerichtlichem Wege zu erstreiten, hatten damit aber oft nur wenig Erfolg. Die kommunalen Verbände atmeten auf.

Was heute fast vergessen ist: Der Kita-Ausbau war auch ein ideologischer Konflikt. Für Handlungsdruck sorgte die demografische Entwicklung – immer weniger Paare bekamen zu Beginn des Jahrtausends Kinder, die Geburtenrate lag 2003 gerade mal bei 1,34 Kindern je Frau. Daher sollte die Krippenbetreuung ausgeweitet werden, damit Mütter eher in den Beruf einsteigen können. Doch insbesondere die CSU hat lange am traditionell westdeutschen Betreuungsmodell festgehalten, wonach die Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause betreut werden. Um weiterhin eine »Wahlfreiheit« für die Eltern zu gewähren, pochten die Christsozialen auf die Einführung eines bundesweiten Betreuungsgelds. Die von den Kritikern oft als »Herdprämie« bezeichnete Familienleistung hatte allerdings keinen langen Bestand. Bereits nach zwei Jahren wurde es vom Bundesverfassungsgesetz kassiert, weil die Länder für eine solche Gesetzgebung zuständig sind und nicht der Bund. Einzig Bayern, das Stammland der CSU, hält bis heute an der Leistung fest.

An der prekären Situation in den Kitas hat sich in den vergangenen Jahren nichts Grundlegendes geändert. Die Zahl der betreuten Kleinkinder ist nur leicht angestiegen. Im März 2022 waren es 838 700 Ein- und Zweijährige. Das entsprach einer Quote von 35,5 Prozent, laut dem Bundesfamilienministerium wünschten sich aber 49,1 Prozent der Eltern von unter dreijährigen Kindern einen Betreuungsplatz.

Noch immer gibt es also einen Engpass, worunter auch die Qualität leidet. Vielerorts sind die Räumlichkeiten ungünstig und es mangelt an Fachkräften, wodurch es immer wieder in Einrichtungen nur eine eingeschränkte Betreuung gibt. Das gilt auch für ältere Kindergartenkinder, bei denen die Betreuungsquote bei 91,6 Prozent liegt. Mit dem nunmehr zweiten Kita-Qualitätsgesetz versucht die Bundesregierung, in Absprache mit den Ländern nachzubessern. Doch der Erfolg ist nur mäßig. Teilweise wurden die Gelder für die Abschaffung der Kita-Beiträge ausgegeben.

Noch immer sind die Betreuungsschlüssel in vielen Einrichtungen ungünstig, was eine große Arbeitsbelastung für die Erzieherinnen und Erzieher nach sich zieht. Die Erziehungsgewerkschaft GEW kritisiert dies immer wieder. »Die Bedingungen in den Kitas sind kaum noch zu verantworten«, erklärte Doreen Siebernik, Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit der GEW, unlängst. Zu oft gehe es nur noch um Verwahrung. Grassierende Infektionen, allgemeine Erschöpfung der Beschäftigten und eine ungewöhnlich hohe Fluktuation in der Belegschaft lassen es Siebernik zufolge nicht mehr zu, allen Kindern gerecht zu werden.

Weil noch immer ein solcher Mangel herrscht, erlauben die Kita-Gesetze vieler Länder unvorteilhafte Personalschlüssel. In den meisten Einrichtungen fallen sie hinter die Empfehlungen der Erziehungswissenschaftler zurück. Bei Kleinkindern, die noch nicht drei Jahre alt sind, soll sich eine Fachkraft um drei Kinder kümmern. Gerade die Jüngsten bräuchten einen Schutz durch Erziehern, um sich entfalten zu können, betont die Entwicklungspsychologin Karin Grossmann seit Jahren. »Unruhige große Gruppen stören Kinder und verhindern intensive Aufmerksamkeit beim Spielen und Entdecken.« Zumal bei Kleinkindern das Sozialverhalten noch unreif sei. Ständiges Rempeln und Wegnehmen von Spielgeräten könne sie nachhaltig verstören. »Kinder im Alter von zwei Jahren sind häufig aggressiv.« Sie könnten noch nicht teilen und bräuchten den Beistand, um dies zu lernen. Für Grossmann ist eine intensive Begleitung in der Kita wichtig. Denn lernen Kinder dieses soziale Verhalten nicht in den ersten vier Lebensjahren, würden sie auch später in der Schule zu egoistischem Verhalten neigen.

Akzeptabel sind die Personalschlüssel vor allem in Baden-Württemberg und Bremen. Unzureichend dagegen auffallend oft in den ostdeutschen Ländern. Allerdings werden dort traditionell deutlich mehr Kleinkinder betreut. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) kennt diese Defizite und strebt eine Verbesserung mit einem weiteren Qualitätsgesetz an, das in diesem und dem nächsten Jahr Mittel von vier Milliarden Euro bereitstellt.

Paus weist darüber hinaus auch auf eine weitere Betreuungslücke im Bereich der Grundschulen hin. Für viele Eltern ergibt sich mit der Einschulung nämlich ein weiteres Problem. Es fehlt vielerorts eine umfängliche Nachmittagsbetreuung. »Deswegen ist die Einführung eines Rechtsanspruchs auf den Ganztagsgrundschulplatz so wichtig. Das ist die nächste Priorität«, so die Grünen-Politikerin. Bund und Länder hatten vor zwei Jahren einen solchen Rechtsanspruch beschlossen, der ab 2026 schrittweise eingeführt wird.

Dafür müssen Kapazitäten geschaffen werden, es braucht Ganztagskonzepte und Fachkräfte. Daran mangelt es. Es fehlen Tausende Lehrkräfte und Sozialarbeiter. Doch die Angst vor einer Klagewelle von Eltern, die ohne Betreuungsplatz dastehen, hält sich bislang in Grenzen. Das ist anders als vor zehn Jahren bei den Kita-Plätzen. Obwohl das Ausbauziel an den Grundschulen fast nicht zu erreichen ist, herrscht diesbezüglich keine Alarmstimmung. Fast scheint es, als hätte sich die Politik an die Mängelverwaltung gewöhnt.

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