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Das Glück der Fiktion
»Das letzte Buch des Herrn A.« von Alherd Bacharevič beleuchtet postsowjetische Realitäten
Eine Wohnung in einem Haus in Minsk muss entrümpelt werden, zwei Lastenträger rücken an und beginnen ihre Arbeit. Plötzlich hört einer der Männer eine Frauenstimme. Sie kommt aus einem Sack, in dem sich allerlei Dokumente befinden und in dem er einen Pass findet, der einer Frau gehört hat, deren Stimme nun auf unheimliche Weise zu ihm spricht. »Ich brauche deine Hilfe! Rette mich, verstecke mich, sonst wird niemand die Wahrheit erfahren!« In der Folge entspinnt sich ein wirbelndes Stück um die Frage nach Berufung, um die Bedeutung und Deutung von Dichtung und die Rolle von Dichtern und Menschen in einem Land, das schwere Lasten schafft, wenn es mitunter Menschen verschwinden lässt. Wie auch die Wahrheit über unendliche Gräueltaten, düstere Gewaltexzesse und andere Scheußlichkeiten. Die Erinnerung daran aber bahnt sich als Wiedergänger ihren Weg in das Wesensgefüge der Gesellschaft und der Menschen und wird so zur unendlichen Last. So hört man eben Stimmen, die zu einem sprechen.
Die Geschichte ist Teil von 30 märchenhaften Stücken aus dem Roman »Das letzte Buch des Herrn A.« des Schriftstellers Alherd Bacharevič, der aus Belarus stammt, das zwar nicht explizit als Ort des Geschehens benannt wird, aber unschwer als Echo- und Poesieraum zu erkennen ist. Es ist ein Buch, das sich einer klarsten Deutung und einer lockerleichten Lektüre entzieht, sondern ein höchst kreativer, eruptiver Aufschrei gegen die Fänge des postsowjetischen Daseins. Fantasie als Mittel des Überlebens und der Daseinsberechtigung, ein mit allen Mitteln der Kunst und der poetisch-philosophischen Ausuferung auf die Spitze getriebenes Pamphlet für die Macht der Literatur. Es wimmelt in dem Buch von unheimlichen Gestalten und exotischen Figuren, Roboter-Androiden, Rittern oder Clowns, von Dingen, die sich den Regeln der Logik entziehen – und der Vernunft sowieso.
Wenn die Realität wie in einem Land wie Belarus, wo Menschen unterdrückt und zu Tausenden festgenommen, gefoltert und außer Landes getrieben werden, derart erschlagend ist, kann Realismus für die Literatur nicht das Ziel sein, um Sinn zu suchen und zu stiften. In einem Interview mit dem Radiosender Svaboda sagte Bacharevič: »Jeden Tag, wenn man aufwacht, stellt man fest, dass das eigene realistische Schreiben, Ihr gesamter sogenannter Realismus durch die Nachrichten zerstört wurde, die über Nacht kamen – die Sie auf Facebook oder auf der Website von Radio Svaboda lesen. Es macht keinen Sinn, anders zu schreiben. Nur die Fiktion ist heute in der Lage, diese Welt mehr oder weniger erfolgreich darzustellen und ihr einen Sinn zu geben.«
Die Rahmenhandlung erinnert nicht umsonst an Boccaccios »Decamerone« oder an »1001 Nacht«. Bacharevič ist ein erklärter Liebhaber von Märchen, er hat Geschichten der Grimms und von Wilhelm Hauff ins Belarussische übertragen. Im Buch leiht sich der glücklose Schriftsteller 10 000 Dollar von einem Kaufmann. Als Gegenleistung nimmt der den Autor in die Pflicht. Er soll ihm 30 Märchen schreiben, jeden Tag eines. Der Autor liest die Märchen dem Kaufmann, dessen Frau und drei weiteren Personen aus dem Haushalt der beiden vor. Danach debattiert das Kollegium über die Qualität eines jeden Märchens und darüber, ob der Autor seine Aufgabe erfolgreich erfüllt hat. Hier kommt eine zusätzliche Dimension des Buches zum Tragen: die Verhandlung eines literarischen Werks im Spannungsfeld zwischen Autor, Lesern und Kritikern, der Umgang mit falschen, nicht-erfüllten Erwartungen oder sogar Forderungen und dem Mut des Autors, sich einer Wahrheitssuche hinzugeben, die sich letztlich nicht steuern lässt. So heißt es zu Beginn des Buches: »Es gibt keine Götter, außer der Freiheit, außer Zärtlichkeit und Schöpfertum; es gibt keinen Glauben außer dem Glauben an sich selbst und an die, die du liebst, es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken.«
Bacharevič schont sich nicht, die Märchen sind in Stil, Sprache und Inhalt ein sprudelnder Kraftakt, dem dank der Übersetzungsarbeit von Andreas Rostek und dem Autor selbst im Deutschen ein schlicht schönes Pendant erarbeitet wurde. Sie sind in jeder Hinsicht Grenzen sprengend, was auch im Buch selbst vollzogen wird – indem sich Realität und Fiktion vermischen, Rollen vertauschen und letztlich die Fiktion die Kontrolle über die Wirklichkeit gewinnt?
So viel Subversion und Schaffenskraft können autoritäre Systeme in ihren schlichten Denk- und Reaktionsmustern nur als Gefahr und Bedrohung ansehen. Man wundert sich also nicht, dass das Buch von den belarussischen Machthabern, die seit den Protesten von 2020 gegen alles und jeden vorgehen, gerichtlich als »extremistisch« eingestuft und damit verboten wurde. Dass dieses Wunder von einem Buch bei uns erschienen ist, ist ein großes Glück!
Alherd Bacharevič: Das letzte Buch des Herrn A. Edition.fotoTAPETA, 464 S., geb., 25 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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