Reform der Notfallversorgung: Überschätzte Dringlichkeit

Für die Reform der Notfallversorgung fehlt ein schlüssiges und akzeptiertes Konzept

In der Notaufnahme der Universitätsklinik Leipzig
In der Notaufnahme der Universitätsklinik Leipzig

Zum Thema Notaufnahme dürften vielen Schauergeschichten einfallen: von tumultuösen Zuständen und langen Wartezeiten. Ebenfalls recht häufig tauchen Untersuchungen dazu auf, wie groß der Anteil der Patienten ist, die dort einfach fehl am Platze sind und ihre eigene medizinische Bedürftigkeit stark überschätzen. Nach älteren Zahlen könnten fast die Hälfte der Patienten eigentlich ambulant ausreichend versorgt werden. Die Idee bisher war, den Notambulanzen der Kliniken dafür Notfallpraxen für weniger schwere Fälle zuzuordnen – beziehungsweise diese in direkter Nachbarschaft einzurichten.

Am Rande der Debatte um die künftige Krankenhausreform, in der die Neuorganisation der Notfallversorgung bislang eine unterbelichtete Rolle spielt, kamen im letzten Herbst neue Zahlen aus Leipzig. Dort hatte ein Team um den dortigen Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) am Universitätsklinikum, André Gries, sich eigene Daten aus dem Jahr 2019 vorgenommen und untersucht, auf welchem Weg Patienten kamen und wie sie versorgt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass jeder sechste Selbsteinweiser anschließend auch stationär behandelt wurde. Das liegt vermutlich in dem Rahmen, den Kritiker einer ungenügenden Patientensteuerung auch erwarten.

Interessanter war aber, welchen tatsächlichen Versorgungsbedarf jene Patienten hatten, die über einen Rettungs- oder Notarztdienst eingewiesen wurden oder durch einen niedergelassenen Arzt. Von den insgesamt etwa 34 000 Fällen wurde fast die Hälfte, nämlich 47,7 Prozent durch einen Rettungs- oder Notarztdienst geschickt oder begleitet, weitere 7,6 Prozent durch einen anderen Arzt eingewiesen. Stationär aufgenommen wurden nur 40 Prozent der Kranken aus beiden Gruppen. Der größere Teil konnte nach einer Untersuchung wieder nach Hause.

Die Leipziger Mediziner interpretieren die Zahlen so, dass es bei den meisten dieser Einweisungen eigentlich nur um eine Anschlussdiagnostik ging, die ambulant nicht zu leisten war. In den Praxen der Niedergelassenen fehlten einfach Röntgen- oder Ultraschallgeräte. Selbst durch einen Notarzt eingewiesene Patienten konnten zu fast 30 Prozent nach einer Abklärung die ZNA wieder verlassen. Angesichts dessen fordern auch der Notfallmediziner Gries und seine Kollegen eine Reform. Die Trennung der Versorgung in ambulant und stationär soll also auf den Prüfstand.

Zu etwas anderen Ergebnissen kam ein Projekt, das aus dem zentralen Innovationsfonds für das Gesundheitswesen finanziert wurde. Die Federführung lag bei der Berliner Charité. Hier wurden Daten aus verschiedenen Quellen daraufhin analysiert, wie Patienten das Gesundheitssystem vor und nach einer Behandlung in der Notaufnahme nutzten, nach Angaben von Kliniken, kassenärztlichen Vereinigungen und der AOK. In ihrem Fazit kommen die Beteiligten zu dem Schluss, dass die vermeidbare Inanspruchnahme der Notfallversorgung ähnlich wie international bei gut einem Viertel der Patienten vorliegt. Grund dafür könnte sowohl die »selbst wahrgenommene Dringlichkeit« sein, aber auch fehlende oder nicht angesteuerte alternative Versorgungsmöglichkeiten. Der Gemeinsame Bundesausschuss für das Gesundheitswesen (G-BA) sieht hier keine Fehlsteuerung der Patienten als ursächlich, sondern hält »einfach« eine Optimierung der Versorgung für nötig.

Schon 2018 hatte der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen vorgeschlagen, sogenannte Notfall-Zentren zu entwickeln. Dabei sollten Notaufnahmen so ausgestattet werden, dass alle akuten Patienten adäquat behandelt werden – egal, ob sie dann wieder nach Hause können oder nicht. Doch davon ist die aktuelle Debatte noch weit entfernt.

Darüber sollte auch eine neuere Stellungnahme der Regierungskommission zur Krankenhausreform nicht hinwegtäuschen. Deren Gutachten wurde im Februar vorgestellt: Die Zukunftsvision umfasst integrierte Notfallzentren sowie zusätzliche integrierte Leitstellen, die telefonisch und per Videosprechstunde erreichbar sind. Diese Struktur ist aber noch lange nicht vorhanden. Bei dem Vorschlag fehlt unter anderem ein verbindlicher Personalschlüssel für die Pflegekräfte in Notaufnahmen. Gefordert wird auch eine ausreichende Finanzierung.

Eine weitere Front wurde vom G-BA aufgemacht. Der hatte Anfang Juli ein neues Regelwerk zur Ersteinschätzung in der Notfallversorgung beschlossen. Vorgesehen ist demnach, dass ein größerer Teil hilfesuchender Patienten in Zukunft am Tresen der Notaufnahme abgewiesen werden könnte, ohne dass ein Arzt ihren Hilfebedarf eingeschätzt hätte. An der Stimmenmehrheit im G-BA waren Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der unparteiische Vorsitzende beteiligt. Die Krankenhäuser halten entgegen, dass es bis heute kein valides Ersteinschätzungsverfahren für Notfälle gibt, auf dessen Basis spezialisierte Pflegekräfte urteilen sollten. Ein solches Verfahren sei auch nicht bis Frühjahr 2025 in Aussicht, wie es der G-BA erwartet.

Jede Menge ungelöste Aufgaben also. Dabei ist fraglich, ob das Gesundheitsministerium den G-BA mit der jüngsten Regelung noch stoppen wird, wie es die Krankenhausgesellschaft verlangt. Angesichts der Ansage, dass die Krankenhausreform keine Zusatzkosten verursachen dürfe, ist eine Neustrukturierung und bessere Ausstattung der Notfallversorgung sehr ungewiss – keine guten Nachrichten für die Patienten in den Rettungsstellen.

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