Absolution für Parteizertrümmerer

Brigitte Seebacher über den Niedergang einer einst stolzen Partei

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 4 Min.

Etwas verhalten hat die SPD dieses Jahr ihren 160. Geburtstag begangen. Und das hat wohl Gründe. In diesem Kontext interessant ist das voluminöse Buch, das Brigitte Seebacher, die dieser Partei selbst von 1965 bis 1993 angehörte, ungefragt zum Jubiläum vorlegte. Schon der Titel »Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied« lässt die Botschaft ahnen. Zutreffend, weil allzu große Erwartungen in realer Selbsterkenntnis dämpfend, heißt es im Untertitel einschränkend: »Zur Geschichte der Sozialdemokratie«.

Die relativ chronologische Darstellung endet bereits 1982, was folgt, sind eher feuilletonistische kurze Einlassungen über die »Scheinblüte« der Partei in den Achtzigern und den sich damals bereits ankündigenden Paradigmenwechsel. Die Auswahl der Fakten verdankt sich eher persönlicher Wahrnehmung und Beurteilung denn fachlicher Stringenz. Bei der Meisterung der Dialektik von wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver Parteilichkeit zeigt Brigitte Seebacher deutliche Grenzen.

Der Text ist in sieben Kapitel plus Epilog gegliedert, Letzterer – unter der alles und nichts sagenden Überschrift »Nichts ist ewig« – empfiehlt sich als Prolog zu lesen. Hier wird dem aufmerksamen Leser offenbar, was Willy Brandt vom politisch-weltanschaulichen Standpunkt seiner (letzten) Gattin hielt, als er einmal meinte, rechts von ihr sei nur noch die Wand.

Die Quellengrundlage mit rund 500 angegebenen Monografien sowie circa 90 Dokumenteneditionen und Protokollen ist genauso beeindruckend, wie die strikte Ignoranz erstaunt, mit der Publikationen von DDR-Historikern bedacht werden. Derart erspart sich Brigitte Seebacher freilich jegliche Polemik mit Autoren, die in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie auch Zeiten der Hoffnungen, realer Kämpfe, kluger Parteiprogramme und Siege erkennen und diese nicht nur als eine Kette von Niederlagen und vergeblichem Tun ansehen.

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Selbstredend beginnt die Darstellung im Jahr 1863 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle. Über das »Werden einer Bewegung«, das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Nazizeit bis zum Neuanfang 1945/46 wird der sachkundige Leser nicht viel Neues erfahren. Aufschlussreicher wird für ihn sein, wie sich die Sichtweisen in parteioffiziösen, zweifellos brillanten Spezialstudien für die Nachkriegszeit, vor allem von Kurt Klotzbach, Klaus Schönhoven und Bernd Faulenbach, von den Wertungen der Autorin dieser neuen Parteigeschichte unterscheiden.

Besonders deutlich werden solche im Kapitel »Machtspiele«, wo die betonte Absage Brandts auf dem Parteitag 1972 an im linken Flügel wieder aufgekommene Forderungen nach systemüberwindenden Reformen vorgestellt wird. Diese implizierte das Festhalten an einem demokratischen Sozialismus, der keine Eigentumsverhältnisse neu ordnen werde, sondern eine Veränderung der Wirtschafts- und Sozialordnung nur durch demokratische Kontrolle der wirtschaftlichen Macht mithilfe der Politik vornehmen wollte. Man verabschiedete sich nicht nur vom Begriff »Systemüberwindung«, was bereits eine Vorwegnahme des neuen »Dritten Weges« des britischen Labour-Politikers Tony Blair sowie des deutschen sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder war, sondern zugleich von etlichen ursozialdemokratischen sozialpolitischen Forderungen.

Im abschließenden Kapitel »Jeder Weg ein Sonderweg« sowie im Epilog werden unter Einbeziehung der Entwicklungen und Entscheidungen der Nachfolger der SPÖ unter Franz Vranitzky, der Labour-Partei von Blair, der französischen Sozialisten unter François Mitterrand sowie der schwedischen Sozialdemokraten unter Olof Palme einige Probleme der SPD ab den 90er Jahren angesprochen, jedoch ohne jeglichen Bezug zu den Auseinandersetzungen und Lehren vorausgegangener Jahrzehnte.

Das Desaster der SPD im Jahr der deutschen Vereinigung, für das Oskar Lafontaine hier zusätzlich als der falsche Kanzlerkandidat abgewatscht wird, gilt Brigitte Seebacher als Schlusspunkt eines langen Abschieds von hundertjährigen Hoffnungen, von der illusorischen Vision eines »demokratischen Sozialismus«. Eine auch nur in Ansätzen überzeugende Erklärung für das Ende des glorreichen »sozialdemokratischen Jahrzehnts«, wie Faulenbach die SPD-Regentschaft 1969 bis 1982 wertet, bietet sie nicht, auch nicht für die ausgebliebenen Stimm- und Mitgliedergewinne mit dem Anschluss der DDR an die BRD sowie bis heute andauernde beziehungsweise wiederkehrende Stimm- und Umfrageverluste. Eine Art fatalistischer Determinismus, der zu jeder Zeit mögliche gesellschaftliche Alternativen ausblendet, schimmert hier durch.

Letztlich spricht Brigitte Seebacher die SPD-Führungen wie die Mitglieder von aller Verantwortung für das – als Abschied umschriebene – Scheitern einer Jahrhundertbewegung frei. Die mit der heutigen sozialdemokratischen Spitze um Kanzler Olaf Scholz konform denkenden und handelnden Parteibuchbesitzer können und werden sich in diesem Buch bestätigt fühlen. Sie dürfen sich guten Gewissens der »Zeitenwende« hingeben und müssen sich nicht von Kassandrarufen eines Epochenumbruchs erschrecken lassen. Kritische Leser sowie den traditionellen Werten und Zielen anhängende Sozialdemokraten wird dieses Buch trotz eines eleganten Schreibstils jedoch nicht überzeugen und eher langweilen.

Hinsichtlich der Zukunft der SPD gibt die Autorin den Lesern noch einen (recht zynischen) Spruch aus der britischen Labour Party mit auf den Weg: »Goodbye to all that! Nothing lasts for ever.« Auf Wiedersehen, Schluss mit all dem, nichts währt für immer.

Brigitte Seebacher: Hundert Jahre Hoffnung und ein langer Abschied. Zur Geschichte der Sozialdemokratie. J. H. W. Dietz, 719 S., geb., 49,90 €.

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