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Franz Josef Wagner zum Geburtstag: Das verlorene Paradies
»Bild«-Chefkolumnist Franz Josef Wagner wird 80. In seiner tastenden Sprache spiegelt sich unsere fragmentierte Gegenwart
Franz Josef Wagner, seit 2001 Chefkolumnist der »Bild«, wird 80. Ein Grund zu feiern? Für viele seiner zahlreichen Kritiker sicherlich nicht. Aber muss man sich in die Reihe von Anti-Wagner-Prominenzen wie Micky Beisenherz, Stefan Niggemeier und Klaas Heufer-Umlauf einreihen? Stimmt man, wenn man es nicht tut, mit den misogynen und rechtslibertären Empörungen überein, die mehr als nur einmal aus den Fingern des Boulevard-Journalisten geschäumt sind? Wird man gar zu Jan Fleischhauer, der Wagner als Vorbild rühmt? Wir sagen: Nein. Stattdessen gilt es das Phänomen Wagner zu analysieren und den Mann zu würdigen, wo es ihm gebührt.
Auch wenn die Grenzen des Sagbaren noch immer entlang eines schmutzigen Schützengrabens verlaufen: Franz Josef Wagner rüstet ab. Hinter der Empörungswut erscheint zunehmend eine Suche nach dem verlorenen Paradies. Bisweilen endet sie in der Sackgasse tradierter Frauenbilder und dem mütterlichen Schoß – wie jüngst in einem Interview mit dem »Zeit-Magazin«, in dem er sinniert, aus seinen Texten spreche »die Sehnsucht nach etwas Mütterlichem, Rote-Kreuz-Schwesterlichem, Tröstendem. (…) Nach Frauen, die dem Soldaten die letzte Zigarette hinhalten, und dann sagt der Soldat ›Mama‹.«
Klar, auch Franz Josef Wagner ist alt geworden. Doch er ist bestrebt, dem Verfall etwas entgegenzusetzen. Das zeigt sich etwa in seiner Suche nach dem »idealen Satz«, die sich in den Fragmenten seiner Kolumne zunehmend als Suche nach einer Utopie der Sprache gestaltet. Was? Wagner? Utopie? Seien wir ehrlich: Deutschland hat sich verändert, Franz Josef Wagner verändert sich auch. Der Blick wird frei auf den Prosa-Poeten-Mensch FJW. Zu seinem 80. Geburtstag fragen wir uns gemeinsam mit ihm: »Wer bin ich? Werde ich noch gebraucht? Wo gibt es noch Wasser? Wo ist mein Paradies?«
Fehlbares Medium
»Post von Wagner« ist die meistgelesene Kolumne eines deutschen Printmediums. In der Zeit ihres 22-jährigen Bestehens ist der Kolumnist indes selbst zum Medium geworden. Die Person Franz Josef Wagner sollte einst bei »Bild« mittels der eigens für ihn geschaffenen Position »Chefkolumnist« aus den Redaktionsräumen verdrängt werden. Man wollte ihn nicht mehr haben – jedenfalls nicht mehr so ganz.
Heute ist er in der Verlässlichkeit, mit der er zum Volk (und mit der das Volk durch ihn spricht), Vorbild- und Vaterfigur, ohne den autoritären Geist hergebrachter Vaterfiguren wiederzubeleben – der alternde Wagner als aufgehender Leitstern der postödipalen Gesellschaft? Seiner eigenen Fehlbarkeit ist sich FJW dabei stets bewusst: »Wenn ich zwei mittelgute Kolumnen geschrieben habe und zwei gute, dann muss schon eine sehr gute kommen. Das ist mein Anspruch. Nichts ist schöner als das unbewusste Gelingen, denn Malerei ist Handwerk. Dichtung ist Zufall.«
Das »unbewusste Gelingen« schleicht sich in Wagners Texte durch die Hintertür der freien Assoziation. Fehlleistungen – grammatikalische wie politische – sind hier erlaubt, ohne sich jemals zum Programm zu verhärten, ganz entgegen sonstiger »Bild«-Inhalte. Zunehmend aber scheint Franz Josef Wagner trotz seiner väterlichen Qualitäten auch einen Regressionswunsch zu artikulieren. Der Ort – die Seite 2 des Boulevardblatts, in kalkuliertem Gleichmaß; der Inhalt – stets unberechenbar und widersprüchlich.
Wagner drückt seine Regressionswünsche insbesondere in Form infantiler Neologismen und Lautmalereien aus: So will er sich von der bisexuellen Torhüterin Nadine Angerer als imaginierte große Schwester beschützen und auf eine Expedition in die Arktis mitnehmen lassen. In kindlicher Faszination nennt er sie »Männer-Frau-Mensch« mit einem »Abenteuer-Gesicht«. In der Arktis strecken sie gemeinsam die Füße in ein Wasser, das so »brr-brr-kalt« ist, wie vor 100 Jahren in Deutschland, als man das Wort »Sommerfrische« noch kannte und die Menschen von Klimawandel und »Isothermen« nichts zu wissen brauchten. Der Klimawandel weckt in ihm Urängste, er leugnet ihn nicht.
Kollektive Psychoanalyse
Zum Unbewussten gelangt Wagner auch durch eine Vielzahl rhetorischer Fragen. Diese weisen seine literarische und analytische Autorität aus, werden aber auch im Bewusstsein gestellt, dass man sich seines Wissens nie zu sicher sein sollte. Wagner hinterfragt zuvor Postuliertes umgehend selbst. »Post von Wagner« – ein fortwährendes Zwiegespräch des Kolumnisten mit sich und der Nation?
In seinen fragmentarischen Texten verbindet sich das Subjekt Wagner immer wieder mit einer verwalteten, fragmentierten Welt. In den kurzen, oft abgehackt montierten Sätzen finden wir eine Gesellschaft wieder, die am Zerfallen ist. Die von Wagner in die Luft gezeichneten Sprachbilder bieten uns dennoch die Möglichkeit, die verlorenen Bande zwischen der Welt und dem Ich zu schließen. In ihrer Offenheit, ihrem antithetischen Aufbau und ihrer tastend-suchenden Bewegung besitzt seine Sprache nicht zuletzt Eigenschaften, die auf das Nichtidentische verweisen.
Neben der sprachlich-konkreten Ausgestaltung der einzelnen Kolumnen ist es die im seriellen Medium angelegte Illusion der Unendlichkeit, die, wie in der Psychoanalyse, eine gelingende Arbeit mit dem Unbewussten erst ermöglicht. Dabei muss in Anbetracht der Unendlichkeit nicht jede psychoanalytische Sitzung gelingen und nicht jede Kolumne sitzen. Keiner wüsste das besser als Franz Josef Wagner selbst.
Sehnsucht nach der Sehnsucht
Das Ausdehnen von Wagners Kolumne ins Unendliche zeigte sich zuletzt auch in seiner »Sehnsucht nach der Sehnsucht« – eine Empfindung, die er dem auf Zigaretten und Salz verzichtenden Gesundheitsminister Karl Lauterbach abspricht. Ewiges Sehnen, das ist bei Wagner der schweifende Blick in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die vage bleibt; abstrakte, gestauchte Vorzeit, die mal seine eigene Lebensspanne umfasst, mal die der gesamten Menschheit. Wagner lässt einen spüren: Die Vergangenheit vergeht nicht, aber sie leuchtet schön.
Niklas Minkmar schaute vor einigen Jahren in der »FAZ« auf Franz Josef Wagners Autobiografie »Brief an Deutschland« und zog den Vergleich zu Michel de Montaignes »Essais«. Für ihn liegt das Gemeinsame des Chefkolumnisten und des Philosophen aus der frühen Neuzeit vor allem in der Einsamkeit, aus der sich beide herausschrieben. Mehr noch als die Einsamkeit ist es aber die in diesem Zustand empfundene Schwermut, die Wagners Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit die Zugkraft verleiht. Wagner ist Melancholiker. Sei es fragend, nostalgisch verklärend oder fatalistisch, seine Sprache, sein Sehnen, richtet sich auf das abhandengekommene Objekt der Begierde.
Der Grund des Verlustes? Die Gegenwart. An ihr bleibt Franz Josef Wagner auch im Blick zurück schmerzhaft haften. Schaut er zum Beispiel nach Russland, so begegnet ihm zunächst die vergangene Größe alter Helden: »Russland hatte einmal so viele gute Männer. Tolstoi, Dostojewski, Gorbatschow.« Unterbrochen wird das Eintauchen in die vergangene Zeit nur durch den lethargischen Blick in eine düstere Gegenwart: »Heute ist es so, als würde die Sonne über dieses Land nicht mehr scheinen.« Traurig stimmt ihn dieses Russland, aus dem nun wirklich nur noch Gräuel entsteht.
Anders, wenn sein Blick nach Frankreich schweift. Das Frankreich der Vergangenheit? Für ihn ein Hort der Schönheit: »Frankreich ist für mich, auf einer Terrasse zu sitzen über Cannes, die weißen Gipfel der Alpen zu sehen und darunter das blaue Meer.« Ein Bild vom alten Frankreich, das ihm allerdings nur durch die Medien Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und Francoise Sagans »Bonjour Tristesse« erscheint.
Bewusst unterbricht er seine eigene vorgeprägte und sehnsuchtsvolle Perspektive: »Ich habe nie Urlaub gemacht in Vororten von Paris, die man Banlieue nennt.« Die Gegenwart der in Frankreich immer wieder aufflammenden gewaltsamen Proteste gegen die Regierung, die ihren Schatten auf das grell kolorierte Bild der Vergangenheit wirft, ist für Wagner aber kein Gräuel wie in Russland.
Für ihn, den als »Gossen-Goethe« Verschrienen, sind Unruhen »etwas Revolutionäres« und die Ermordung eines 17-jährigen Schwarzen durch die Polizei so, »als würde man ein Feuerzeug an einen Benzinkanister halten«.
Wo liegt das Paradies?
Vor Wagners Augen zerfließt die Zeit, das Paradies des Vergangenen, und prallt auf eine Gegenwart, die allerdings trotz seines verklärenden Kulturpessimismus für ihn nicht immer der Ort des Falschen ist. Doch wo ist der Ort des Richtigen? Wo gibt es noch Wasser? Wo liegt das Paradies?
Vielleicht in einer Sprache der gegenseitigen Verneinung von Gegenwart und Vergangenheit. Aus der erwächst bei Wagner die Sehnsucht nach einer anderen Gegenwart im Spiegel der golden leuchtenden Vergangenheit. Eine Sehnsucht wie ein Geist, der durch die prosaischen Trümmerfelder seiner Kolumne wandelt, ohne jemals zur Ruhe zu kommen.
Am Ende bleibt die Frage: Gibt es für Wagner abseits dieser Sprache einen konkreten Ort, an dem sich diese Sehnsucht einlöst? Ist es Russland, ist es Frankreich, kann es jemals Deutschland sein? Und: Wann ist Schluss mit Wagner, wann mit seiner Kolumne? Man hätte Wagner nicht verstanden, wenn man auf diese Fragen keine Gegenfrage hätte.
»Gucken wir unsere Straßen an, die kaputten Brücken. Ich habe nur noch 20 Tabletten, um mein Blut zu verdünnen. Bin ich tot, weil Deutschland nicht mehr so ist wie früher?«
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