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US-Gefängnis: Überwachen und Strafen in der Neuen Welt
Das Eastern State Penitentiary, ein Gefängnis im historischen Philadelphia, sollte den Strafvollzug revolutionieren
In Philadelphia ist die Geschichte präsent wie in wenigen anderen Städten der USA. Davon zeugt schon das Stadtbild. Auf der einen Seite: glitzernde Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, darunter das neue architektonische Wahrzeichen, das knapp 350 Meter hohe Comcast Technology Center aus der Architekturfabrik des Briten Norman Foster. 1,5 Milliarden US-Dollar soll es gekostet haben. Und gleich daneben: schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster, viele alte Fabrikgebäude und Wohnhäuser aus rotem Backstein.
Vor allem im historischen Distrikt Philadelphias gibt es überall Schilder, die auf die koloniale Vergangenheit hinweisen. Philadelphia war die erste Hauptstadt der Vereinigten Staaten und viele Jahre lang nach London die zweitgrößte Stadt im britischen Empire. Philly, wie die Stadt von ihren Einwohnern liebevoll genannt wird, hat ein eigenes Gesicht: Es gibt nicht nur die typischen austauschbaren Filialen US-amerikanischer Fastfood- und Kaufhaus-Ketten, sondern auch hübsche Boutiquen, Restaurants, sogar Tante-Emma-Läden und Eckbistros. Fußgänger und Fahrradfahrer gehören zum Stadtbild.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
1682 gründete William Penn die Stadt; auch der Bundesstaat Pennsylvania ist nach ihm benannt. Religionsfreiheit war eines ihrer Grundprinzipien, Emigranten aus vielen europäischen Ländern kamen in die »Stadt der brüderlichen Liebe«. Aus dem Aufbegehren gegen eine als ungerecht empfundene Besteuerung und eine despotische Regierung in England wuchs der Entschluss, etwas Neues zu wagen, die Bande mit dem Mutterland zu kappen und sich auf ein kühnes Experiment einzulassen: eine föderale Republik in einem Zeitalter gekrönter Autokraten zu gründen.
Heute ist Philadelphia die sechstgrößte Stadt in den USA. Im Umkreis weniger Häuserblocks zeigt mir Stadtführer Michael Stahler, der nebenberuflich als Schauspieler und Historiker arbeitet, eine ganze Reihe bedeutender Bauten. Zum Beispiel das Betsy Ross House: ein kleines Museum über jene Frau, die angeblich die erste US-amerikanische Flagge entworfen hat; die 1891 eröffnete Börse, die Carpenter Hall, in der sich 1774 der erste Continental Congress zu Beginn des Freiheitskampfes der damaligen britischen Kolonien traf. Gleich dahinter: eines der wichtigsten Denkmäler der Stadt. »Gewidmet ist es neun Versklavten Personen, die hier lebten und die für George Washington Zwangsarbeit leisten mussten.«
Eine von ihnen, Ona Judge, ist so etwas wie eine Volksheldin in Philadelphia. Sie entkam im Alter von 20 Jahren ihren Peinigern und war die einzige versklavte Person, die aus dem Haus des Präsidenten fliehen konnte und es nach New Hampshire schaffte. Dort verbrachte sie den Rest ihres Lebens als freie Frau. Sie hatte Kinder und Enkelkinder und konnte in den 1840er Jahren ihre Geschichte über abolitionistische Zeitungen verbreiten. »Das war vielen versklavten Menschen in dieser Zeit nicht vergönnt«, bemerkt Stahler.
George Washington war keine Ausnahme: Thomas Jefferson, James Monroe, Andrew Jackson und Ulysses S. Grant sowie viele weitere US-Präsidenten – 12 von 18 Amtsinhabern zwischen 1789 und 1877 – waren Sklavenhalter. Die Sklaverei bildete in den Kolonien ein System der Ausbeutung, in dem man Menschen mit körperlicher und seelischer Gewalt unterdrückte, ein System, das Menschen wie Washington rechtfertigten, obwohl sie wussten, dass Sklaverei moralisch falsch war.
Mit dem Bus geht es in den nördlich gelegenen Stadtteil Fairmount. Es riecht nach Fish and Chips; eine mit Junkfood ausgestattete Gruppe Touristen steht mit mir vor dem Eingang des Eastern State Penitentiary. Dahinter wartet im Besucherzentrum Museumsdirektor Sean Kelley auf mich. Kalter Wind weht durch den riesigen Gebäudekomplex, der von außen wie eine uneinnehmbare, neogotische Burg erscheint.
Die rechteckige Form, die zahlreichen Wachtürme, Zinnen und Spitzbögen verleihen dem ehemaligen Zuchthaus eine mittelalterliche Ästhetik. Allein die massiven grauen Außenmauern haben eine Länge von knapp einem Kilometer. Die meisten Innenwände sind feucht, teils mit Schimmel überzogen, ebenso die kleinen Zellen, alle ohne Tageslicht. Ein leicht modriger Geruch liegt in der Luft.
Als das Gefängnis im Jahre 1829 seinen Betrieb aufnahm, galt es als eines der modernsten Zuchthäuser der Welt und als architektonisches Wunderwerk. Früher als im Weißen Haus in Washington gab es hier ein Toiletten- und Heizungssystem. Im Innern verfügte das Bauwerk über eine ganz besondere Struktur: »Dieses Gefängnis ist wie ein Wagenrad aufgebaut«, erklärt Museumsdirektor Kelley. »Man kann sich im Zentrum, in der Mitte der Radnabe, umdrehen und die bis zu 240 Meter langen Gänge hinunterschauen. Davon gingen die Zellen ab, in denen die Gefangenen ihre Haftzeit verbringen mussten.«
Auffallend ist die kirchenähnliche Architektur mit Rundbögen in den Gängen und Zellen. Das verweise auf die spirituelle Mission des Gebäudes, so Kelley: »Die Menschen, die hier einsaßen, sollten in ihre Herzen schauen und Buße tun.« Heute ist das Zuchthaus eine Touristenattraktion. Über 250 000 Besucher kommen jedes Jahr, um sich zwischen den historischen Gebäudeteilen und Ruinen auf eine Zeitreise zu begeben.
450 identische Zellen von jeweils sechs Quadratmetern Größe waren auf sieben Seitenflügel verteilt. Jede Zelle im Erdgeschoss verfügte über einen eigenen kleinen Außenbereich, dieser war jedoch durch Mauern von den benachbarten Parzellen abgetrennt. So wurde sichergestellt, dass die Gefangenen während ihres Ausgangs nicht miteinander kommunizieren konnten.
Die Häftlinge waren in Einzelzellen untergebracht, durften nicht miteinander sprechen und erhielten nur Besuch von Anstaltsgeistlichen. Die einzige erlaubte Lektüre war die Bibel. Durch die strenge Isolation sollten die Insassen zu Reue und Umkehr gelangen. Nach dem sogenannten Solitary System war man der Ansicht, dass es nichts Gutes bringe, wenn Insassen zusammengebracht oder gar Gefängnis-Freundschaften außerhalb der Anstalt weitergeführt würden. Einzelhaft war daher oberstes Prinzip: 23 Stunden pro Tag verbrachten die Gefangenen in ihren Zellen, unterbrochen von zwei halbstündigen Pausen, um nach draußen auf ihren kleinen ummauerten Exerzierplatz zu gehen. Verließen die Insassen ihre Zellen, so hatten sie Masken zu tragen.
Für Michel Foucault war das Eastern State Penitentiary ein Monument für die »Geburt des Gefängnisses«. Wie die Macht das Individuum drangsaliert, das hatte der französische Philosoph und Diskurstheoretiker vor knapp 50 Jahren untersucht. »Überwachen und Strafen« gilt als eines seiner wichtigsten Werke überhaupt. Foucault sah »Disziplin« als wesentliche Technologie der Macht, sagt der Professor für Rechtsphilosophie und Strafrecht Jochen Bung von der Universität Hamburg.
Zu dieser Disziplinierungspraktik gehörte auch die Isolationshaft im Eastern State Penitentiary: Statt die Gefangenen bei Vergehen oder Fluchtversuchen auszupeitschen, unterwarf man sie der »stillen Strafe«: Man ging davon aus, dass körperliche Züchtigung die Häftlinge nur stärker mache, psychische Bestrafung sie dagegen schwäche.
Foucaults Perspektive mache den Blick darauf frei, so Bung, dass die Macht als Mechanismus sogar in die Subjekte selbst einwandert, indem sie sich selber disziplinieren und selbst überwachen – aus dem Bewusstsein heraus, dass die Öffentlichkeit sie beobachten kann. »Die brutale, offenkundige Repression, die Ausübung von physischer Gewalt als Symbol absoluter Herrschermacht, wird transformiert, wird entmaterialisiert, wandert in öffentliche Beobachtungsprozesse, die schließlich wieder von den Subjekten internalisiert werden: von der brutalen repressiven Regierung zur Selbstregierung.«
Dazu gehörte auch, dass die Häftlinge nicht sprechen durften. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sollte im Eastern State absolute Stille herrschen. »Totale Isolation«, so Museumsdirektor Kelley. Außerdem wurden die Sträflinge von den Wächtern nicht mit ihren Namen, sondern mit ihrer Zellennummer angesprochen, und sie waren angehalten, über Bibelstudium und innere Einkehr Einsicht in ihre Taten zu gewinnen, um bessere Menschen zu werden. Mit dieser Form des psychischen Strafens wollte man die Gefangenen ihrer Identität berauben. Viele wurden in den Wahnsinn getrieben; hinter den »meterdicken Mauern konnte niemand die Schreie der Sträflinge hören«, sagt Kelley.
Nach Foucault wurden bis zum 18. Jahrhundert die Körper der Delinquenten mittels Marter grausam zugerichtet und bis zum langsamen Tod gequält. Diese Praxis stieß vor allem bei Justizbeamten auf Kritik; sie befürchteten, das Volk könnte, angestachelt vom blutigen Strafvollzug, seinerseits auf den Geschmack von physischer Rache kommen und revoltieren. Es entstand eine Reformbewegung. Von der Aufklärung geprägt, nahm sie den Menschen selbst zum Maßstab dessen, wie der Souverän Missetäter strafen sollte – und wie nicht, so Foucault: »Die Notwendigkeit einer Züchtigung ohne Marter artikuliert sich zunächst als Schrei des Herzens oder der entrüsteten Natur: im verruchtesten Mörder ist zumindest eines noch zu respektieren, wenn man bestraft: seine menschliche Natur.«
Wichtige Impulse gingen dabei von der Religionsgemeinschaft der Quäker aus, die eine Abschaffung der Todes- und Prügelstrafe forderte und auf Missstände in den Gefängnissen aufmerksam machte. In Philadelphia, einer der Hochburgen der Quäker, wurde Ende des 18. Jahrhunderts die Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons (Gesellschaft zur Linderung des Elends in öffentlichen Gefängnissen) gegründet. Sie setzte 1821 mit Unterstützung von Benjamin Franklin den Bau des Eastern State Penitentiary durch. In dieser Haftanstalt sollten die Gefangenen nach den religiösen Vorstellungen der Quäker zu einem Leben mit Gott zurückfinden.
Man wollte dafür eine Anstalt im Dienste des Strafrechts errichten, in der die reformierten Methoden der Verbrechensbekämpfung Anwendung finden sollten. Die Erbauer des Gefängnisses waren von den Ideen der Aufklärung beseelt. Nach Foucault wurde der Mensch allmählich als Wesen mit einer Seele wahrgenommen und ihm die Fähigkeit zum Lernen zuerkannt. Die Strafe zielte jetzt auf die Zukunft ab, und ihre Hauptfunktion diente der Vorbeugung.
Die seelische Gewalt betrachtet Foucault als Disziplinierungsmaßnahme. Diese Art zu strafen war im Eastern State Penitentiary auf eine kalte Art und Weise modern: Isolationshaft in winzigen Zellen und ohne Hörkontakt zur Welt. Auch das Zuchthaus in Philadelphia illustriert eine der Hauptthesen von Foucault: wie vereinbar die schrecklichsten Formen des Überwachens und Strafens mit den höchsten Zielen und Werten des Liberalismus und der Aufklärung sind.
Das Eastern State Penitentiary gilt als Prototyp vieler weiterer Zuchthäuser weltweit. Heute ist die ehemalige Strafanstalt ein verwirrendes Labyrinth aus zerfallenden Zellenblöcken, leeren Wachtürmen und bröckelndem Putz, das wie eine Ruine konserviert wird. Museumsdirektor Kelley erklärt: »Wir versuchen gar nicht erst, das Gefängnis so wiederherzustellen, wie es zu einer bestimmten Zeit ausgesehen hat. Stattdessen haben wir das Eastern State so belassen, wie wir es 1971, nach seiner Schließung, vorgefunden haben.« Die Stadt Philadelphia hatte geplant, es abzureißen. Und so wurde 20 Jahre lang kein einziger Cent in den Erhalt der Gebäude investiert. Infolgedessen wuchsen Bäume in den Innenhöfen, Dächer stürzten ein, »sodass wir heute von einer erhaltenen Ruine sprechen können«, resümiert Sean Kelley.
Während seines Bestehens von 1829 bis 1971 hatte das Eastern State Penitentiary etwa 85 000 Insassen. Die typischen Straftaten von damals ähneln in auffälliger Weise den heutigen: Einbruch und Eigentumsdelikte, Diebstahl, Sachbeschädigung, aber auch Gewalt- und Sexualverbrechen, Mord und Körperverletzung.
Am Ende unserer Führung will ich von Kelley wissen, wie viele der Insassen rassistisch diskriminierten Gruppen angehörten. »Das ist wirklich faszinierend«, antwortet der Museumsdirektor. »US-Amerikaner stellen diese Fragen nie oder nur sehr selten. Aber uns sind die Fakten wichtig!« Zwischen 1829 und 1971 waren hier überproportional viele Schwarze inhaftiert – bezogen auf die Gesamtbevölkerung von Pennsylvania. »Unser Land hatte von Anfang an ein Problem mit der Inhaftierung schwarzer Amerikaner«, sagt Kelley. Das spiegele Probleme der Armut, der mangelnden Bildungschancen und der Diskriminierung wider.
»Schwarze starben in diesem Gefängnis viel häufiger als weiße Gefangene. Es gibt in den USA eine Debatte darüber, warum das so ist, aber keine Debatte über die Tatsache, dass es so war«, meint Kelley. Manche Wissenschaftler glaubten, dass dies auf einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand vor der Inhaftierung zurückzuführen sei. Eine andere Theorie besage, dass schwarze US-Amerikaner keinen Zugang zu hochwertigen Nahrungsmitteln hatten und daher körperlich nicht so gut in Form gewesen seien wie ihre weißen Mitgefangenen. Eine andere Theorie gehe davon aus, dass Schwarze häufiger misshandelt wurden. »Aber vermutlich ist es eine Gemengelage von allem«.
Die meisten Touristinnen und Besucher, und Museumsdirektor Kelley kann seine Enttäuschung darüber nicht verbergen, interessierten sich nur für die »big names«, die hier inhaftiert waren. Darunter der Serienbankräuber Willie Sutton und das Symbol des organisierten Verbrechens in den USA: »Der mit Abstand berühmteste Gefangene war Al Capone, der von 1929 bis 1930 hier einsaß. Das Eastern State hatte damals das System der Einzelhaft bereits aufgegeben.«
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