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Mary Hunter Austin: Von den Elementen durchtränkt
Mary Hunter Austins Essaysammlung »Wo wenig Regen fällt« zählt zu den Grundlagentexten des Nature Writing. Nun liegt eine deutsche Übersetzung vor
Mary Hunter Austin kommt Ende des 19. Jahrhunderts nach Kalifornien, wo ihr Bruder im Owens Valley eine kleine Farm bewirtschaftet. Da hat sie gerade das College beendet. Sie verliebt sich in diese unwirtliche Landschaft »zwischen den hohen Sierras südlich von Yosemite«, die »sich südöstlich über eine riesige Ansammlung unterbrochener Bergketten jenseits von Death Valley und unermesslich weit hinein in die Mojave-Wüste« erstreckt. Austin ist affiziert von Flora und Fauna, von den einsamen Käuzen, den Goldsuchern, Schäfern, den letzten Indigenen, die hier in und mit der Natur leben – weniger von den engstirnigen Kleinstädtern, für die alles, was sie nicht kennen und verstehen, die guten Sitten verletzt.
Sie ist eine Schwester im Geiste Thoreaus, die sich lieber in die Büsche schlägt, als ihre Zeit mit einer Teegesellschaft zu verplaudern und die wie die Transzendentalisten um Thoreaus Lehrer Ralph Waldo Emerson im gesteigerten Naturerlebnis den göttlichen Kraftstrom zu erspüren hofft. In besonderen Momenten gelingt ihr das sogar. Sie will schon früh Schriftstellerin werden und bringt mit 24 ihre erste Geschichte unter, und zwar im »Overland Monthly«, dem angesehensten Literaturmagazin des Westens. Sie arbeitet als Lehrerin, schreibt regelmäßig für Zeitungen und Magazine, hält Vorträge. Eine gute Dekade später erscheint ihr erstes Buch »The Land of Little Rain« (1903), das Alexander Pechmann jetzt für die deutsche Leserschaft entdeckt, vorzüglich übersetzt und benachwortet hat.
»Zum wahren Herzen und Kern des Landes dringt man nicht in einem Monat Urlaub vor. Man muss Sommer und Winter mit dem Land verbringen und auf seine besonderen Ereignisse warten«, schreibt sie auf den ersten Seiten von »Wo wenig Regen fällt«. Diese Essaysammlung ist ein erster Ertrag ihrer bis dahin immerhin anderthalb Dekaden langen Suche nach diesen »Ereignissen«. Das Besondere ist dabei oft genug das ganz Gewöhnliche, das man nur lange genug beobachten muss.
Sie kann sich in seitenlangen Wortgemälden der Vegetation verlieren, die stupende botanische Kenntnisse mit lyrischer Sprachpotenz paaren. Das liest sich mitunter etwas statisch, es kostet bisweilen Überwindung, ihren additiven Beschreibungsfuror nicht zu überblättern trotz seiner zweifellosen Qualität. Sie scheint das aber selbst zu merken und dynamisiert ihre Landschaftsporträts, indem sie die Natur personifiziert und Flüsse, Bäume und sogar Wolken zu handelnden Subjekten macht.
»Wenn sich gerade kein Sturm zusammenbraut, kann man sich damit begnügen, die Wolkenströme und die Kammern des Himmels zu beobachten. Vom Kearsarge etwa schaut man über die Inyo Mountains und sieht weiche rosa Wolkenmassen schlafend auf der horizontalen Wüstenluft; im Süden eilt ein weißer Trupp mit Verspätung zu einer Versammlung seiner Artgenossen an der Rückseite des Oppapago; am Fuß des Waban schnüffelnd, kriecht ein flaumiger Nebel nach Süden. Auf den sauberen, glatten Pfaden in der Mitte des Himmelszelts und in den höchsten Luftschichten treiben kleine Herden ohne Hirten und wandern in die Gegenrichtung.«
Auch bei der Tierwelt neigt sie zu Anthropomorphisierungen, die man belächeln kann, aber die Lektüre gewinnt dadurch ungemein. Nicht zuletzt ihr Liebling, der von ihren Zeitgenossen vielgescholtene Kojote, agiert bei ihr wie ein Individuum.
»Sowohl Rotfuchs als auch Kojote streifen in den Nachtstunden umher und beide töten aus reiner Lust am Gemetzel. Der Fuchs ist nicht sonderlich gesprächig, der Kojote dagegen wandert schwatzhaft durch die Dunkelheit, tratschend, warnend und schimpfend in zwanzig Tonlagen auf einmal. Sie gehen auf leisen Sohlen, die Spreizfüßler, sodass der einsame Camper manchmal ihre Augen im Dunklen ringsum sieht und ihr leises Atmen hört, wenn sich kein Blatt regt und kein Zweig unter den Pfoten bricht. Der Kojote ist im Tafelland unser wahrer Gebieter, deswegen will er wissen, ob man ein langes schwarzes Rohr dabei hat, mit dem man auf tausend Yards Entfernung Zähne in seine Eingeweide schlagen könnte, denn er ist kühn und neugierig.«
Noch eindrücklicher sind allerdings ihre völlig vorurteilslosen, sehr warmherzigen, humanistischen Porträts der Menschen, die ihr in dieser kargen Landschaft begegnen. Sie haben sich angepasst an ihre Umgebung und gehören für Austin unmittelbar zur Natur. Der Goldsucher zum Beispiel. Er »war an dem Punkt angelangt, an dem es für ihn kein schlechtes Wetter gab, und ein Ort war ihm so gut wie der andere, solange er nur in freier Natur sein konnte. Ich weiß nicht, wie lang man braucht, bis man von den Elementen so durchtränkt ist, dass man sie nicht mehr beachtet.«
Aber selbst so ein Naturmensch hat in seiner Kindheit und Jugend so viel Zivilisation eingepflanzt bekommen, dass er kein anderes Ziel kennt, als reich zu werden, um dann nach London zu gehen und dort das Leben eines wohlhabenden Bürgers zu führen. Tatsächlich gelingt es ihm, und Austin vermisst jahrelang die zufälligen Begegnungen mit ihm, bis er schließlich eines Tages doch wieder mit seiner Kaffeekanne und Bratpfanne am Feuer sitzt. »Niemand ist stärker als sein Schicksal.«
Die wahren Naturmenschen sind für sie allerdings die »Indianer«. Austin nähert sich ihnen respektvoll und ohne Dünkel und versucht von ihnen zu lernen. Tatsächlich gilt sie in späteren Jahren als gefragte Spezialistin für die indigene Kultur Kaliforniens. Da ist zum Beispiel Winnenapʼ, der weise Medizinmann und große Erzähler der Paiute, der irgendwann von seinen eigenen Leuten umgebracht wird und der sein Schicksal demütig hinnimmt, denn er kennt die Stammesregeln. »Sterben drei Patienten während seiner Behandlungen, muss er sein Leben und sein Amt lassen.«
Oder Seyavi, die Korbflechterin, die schon früh gelernt hat, »dass man viel leichter ohne Mann zurechtkommt, als man zunächst annehmen würde«. Ihr widmet Austin am meisten Aufmerksamkeit, auch weil sie ihr viel erzählen kann über die Legenden und Märchen ihres Stammes. Bereits im Jahr nach ihrem Debüt veröffentlicht Austin ein Buch mit diesen Geschichten – »The Basket Woman. A Book of Fanciful Tales for Children«. Vor allem aber imponiert ihr die Selbstverständlichkeit, mit der Seyavi ein partnerschaftlich ungebundenes Leben fristet.
Sie wird zu einem Vorbild. Austin trennt sich nach dem Erfolg ihres Debüts von ihrem Mann, einem Bankrotteur, der noch dazu ihre schriftstellerischen Ambitionen behindert, und lebt von da an als unabhängige Frau in verschiedenen Konstellationen – in einer Kommune nahe Monterey, in Los Angeles und auch im Greenwich Village. Sie verkehrt in den libertinären, bohemistischen Kreisen, trifft Sinclair Lewis, Ambrose Bierce und Jack London. Später geht sie nach Europa, mischt bei der Suffragetten-Bewegung mit, referiert über freie Liebe, bekommt freundschaftliche Rückendeckung vom großen Gesellschaftsutopisten H. G. Wells und avanciert schließlich zu einer der wichtigsten Stimmen der frühen Frauenbewegung. Ihr sozialreformerisches Engagement schlägt sich in diversen Schriften nieder, wovon ihr feministischer Roman »A Woman of Genius« die meiste Aufmerksamkeit bekommt. Ihr vielfältiges Werk, das neben Romanen, Reiseberichten, Erzählungen und Essays auch Theaterstücke enthält, harrt hierzulande noch einer Entdeckung.
Mit Austins erstem und bis heute erfolgreichstem Buch ist jetzt immerhin ein Anfang gemacht. In »Wo wenig Regen fällt« erblühen ihre unterschiedlichen Interessen, denen sie eigene Bücher widmen wird, noch in einem bunten Durcheinander wie auf einer Wildwiese. Ihre Hochachtung vor der Volkskunst und Alltagskultur der amerikanischen Ureinwohner trägt später am meisten Früchte und lässt sie schließlich zu einer engagierten Verfechterin ihrer politischen Sache werden. Bereits Austins Debüt aber ist ein eindrückliches Plädoyer für ihre Emanzipation und gerade deshalb so eindrucksvoll, weil sie ohne Räsonnement auskommt, sondern einfach die Menschen beschreibt – und sich dabei als unbestechliche Chronistin profiliert.
Mary Hunter Austin: Wo wenig Regen fällt. A. d. amerikan. Engl. u. mit einem Nachwort v. Alexander Pechmann. Jung und Jung, 224 S., geb., 24 €.
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