Marx-Forschung: Ein Werk aus vielen Torsos

Der Marx-Forscher Michael Heinrich spricht über Gesamtausgaben, die Aktualität der Kritik – und wie das Verfassen einer Biografie Marx’ Werk und Leben selbst materialistisch betrachtet

  • Interview: Sebastian Klauke
  • Lesedauer: 7 Min.
Karl Marx selbst hätte vermutlich lieber ein nicht-fragmenthaftes Werk hinterlassen...
Karl Marx selbst hätte vermutlich lieber ein nicht-fragmenthaftes Werk hinterlassen...

Seit 2012 liegt die II. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) komplett vor – und damit alle Texte und Vorarbeiten von Karl Marx zur Kritik der politischen Ökonomie. Welche Bedeutung hat dies für die Arbeit und das Denken über Marx und sein Hauptwerk »Das Kapital«?

Diese Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Marx hatte lediglich den ersten Band des »Kapitals« veröffentlicht. Engels gab nach Marx’ Tod den zweiten und den dritten Band heraus, Kautsky von 1904 bis 1910 die »Theorien über den Mehrwert«. 1939 erschienen die »Grundrisse«, die aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg breiter rezipiert wurden. Und erst seit den 1960er Jahren richtete sich die Aufmerksamkeit auch auf die Erstauflage des ersten »Kapital«-Bandes, die stark von den späteren Auflagen abweicht. Im 20. Jahrhundert hatte jede Generation eine andere Textgrundlage für die Diskussion der Kritik der politischen Ökonomie. Dabei waren die Erstveröffentlichungen aus dem Marx’schen Nachlass nicht vollständig originalgetreu. Die frühen Editoren, angefangen mit Engels, wollten einen Text präsentieren, wie ihn Marx – ihrer Meinung nach – veröffentlicht hätte. Sie stellten Textpartien um, sie strichen und ergänzten, sie teilten den Text in Kapitel und Unterkapitel, die sie mit eigenen Überschriften versahen, ohne dies kenntlich zu machen.

Interview

Michael Heinrich ist Politikwissenschaftler in Berlin. Seine erstmals 1991 veröffentlichte »Wissenschaft vom Wert« liegt mittlerweile in der 9. Auflage vor. Der 2018 erschienene erste Teil seiner Marx-Biografie, »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellschaft« wurde unter anderem ins Englische, Französische, Spanische und Arabische übersetzt.

Engels und Kautsky wollten die Marx’schen Manuskripte »lesbar« machen, und ohne die enorme Editionstätigkeit von Engels hätte das »Kapital« im 20. Jahrhundert sicher nicht so eine große Bedeutung erlangt. Mit der MEGA wurde deutlich, dass sich die Marx’schen Originalmanuskripte nicht nur inhaltlich in manchen Punkten von der Engels’schen Edition unterscheiden, es wurde auch sichtbar, wie offen und unabgeschlossen der Marx’sche Forschungsprozess noch war. Mit der MEGA ist die wissenschaftliche Diskussion der Marx’schen Texte auf einer ganz neuen Stufe möglich geworden.

Gab es neue Erkenntnisse, die auch Sie überrascht haben?

Ich arbeite seit über 40 Jahren mit der MEGA und konnte mein Marx-Verständnis darauf gestützt entwickeln. Manche derjenigen, die die MEGA ignorierten, sind nicht nur überrascht, sondern zuweilen auch verärgert, wenn sie feststellen müssen, dass ihr eingeschliffenes Marx-Bild durch diese Gesamtausgabe in Frage gestellt wird. Quer zu den bis dahin vorherrschenden Auffassungen steht zum Beispiel das Manuskript »Ergänzungen und Veränderungen«, mit dem Marx die zweite Auflage des ersten »Kapital«-Bandes vorbereitete. Darin findet sich etwa ein selbstkritischer Kommentar zu seiner eigenen Darstellung des Werts. Die weit verbreitete Vorstellung, bei Marx sei der Wert allein durch die Produktion bestimmt, erhält durch diesen Text einen ziemlichen Knacks.

Mit der Veröffentlichung des Originalmanuskriptes zum dritten Band des »Kapitals« Anfang der 1990er Jahre wurde unter anderem klar, wie stark Engels sowohl in die Darstellung des Kredits als auch in den Text jenes 15. Kapitels eingegriffen hat, das weithin als Grundlage der Marx’schen Krisentheorie gilt. Auch dessen Titel »Entfaltung der innern Widersprüche des Gesetzes«, ein Titel, der einen engen Zusammenhang von Krisentheorie und »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate« suggeriert, stammt von Engels. Schließlich gibt es mehrere zwischen 1868 und 1875 entstandene Manuskripte, die zumindest vermuten lassen, dass Marx an diesem »Gesetz« inzwischen seine Zweifel hatte.

Wie hat sich damit das Verständnis der Kritik der politischen Ökonomie verändert? Kann man noch von einem zusammenhängenden Gedankengebäude sprechen?

Nicht alles wurde über den Haufen geworfen. Das Marx’sche Konzept einer »Kritik durch Darstellung« hat genauso wenig an Relevanz eingebüßt wie die zentrale Einsicht, dass der kapitalistisch produzierte Reichtum in allen seinen Formen auf der Ausbeutung der Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter beruht. Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, Marx habe seine Kritik der politischen Ökonomie zum allergrößten Teil fertiggestellt, nur sei er dann nicht mehr dazu gekommen, sie zu veröffentlichen. Das von Engels herausgegebene »Kapital« wurde als weitgehend fertige Theorie aufgefasst. Angesichts der in der MEGA veröffentlichten Texte ist diese Auffassung nicht mehr haltbar. Es handelt sich um ein gigantisches Forschungsprojekt, von dem lediglich Fragmente realisiert wurden. Außerdem hat sich das »Design« dieses Forschungsprojektes, also der geplante Aufbau und die Gewichtung der einzelnen Teile, mehrmals verändert. Statt mit einer fertigen Theorie haben wir es bei den einzelnen Texten mit einer Reihe von Zwischenergebnissen zu tun, die auch nicht immer vollständig zusammenpassen.

So stammt zum Beispiel das Manuskript zum dritten Band von 1864/65. Marx’ Forschungen zu vielen Themen dieses Bandes gingen aber noch etwa 15 Jahre weiter. Aus dem Marx’schen Briefwechsel und auch aus dem von John Swinton 1880 geführten Interview geht hervor, dass Marx dieses Manuskript erheblich umarbeiten wollte. Als Engels den dritten Band des »Kapitals« herausgab, konnte er sich aber nur auf das Manuskript von 1864/65 stützen. Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Nur dürfen wir Heutigen diesen Text nicht als Marx’ abschließendes Wort zum »Kapital« nehmen. Ähnliches gilt auch für den ersten Band des »Kapitals«, den Marx in drei verschiedenen Versionen veröffentlichte. Was Engels nach Marx’ Tod als ersten Band herausgab, ist mit keiner dieser drei Versionen identisch: Engels nahm in den Text der zweiten deutschen Auflage einige, aber nicht alle Veränderungen der französischen Übersetzung auf. Dass dies nicht die einzig sinnvolle Edition des ersten Bandes ist, machte die von Thomas Kuczynski besorgte und umfänglich annotierte Neuausgabe deutlich.

Und was bedeutet das für die Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus?

Viele Analysen des gegenwärtigen Kapitalismus wollen grundsätzlich neue Phasen des Kapitalismus festgestellt haben. Das »Kapital« wird auf die Untersuchung eines vergangenen Abschnitts kapitalistischer Entwicklung reduziert. Demgegenüber betont Marx im Vorwort zur ersten Auflage, es gehe ihm nicht »um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen«, er wolle vielmehr »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft enthüllen«. Nicht wenige Analysen, die diesen Anspruch ernst nahmen, verfuhren dann aber sehr schematisch. Akkumulation, tendenzieller Fall der Profitrate, Krise bildeten häufig das Prokrustesbett, in das die aktuelle Entwicklung hineingezwängt wurde.

Akzeptiert man, dass die Kritik der politischen Ökonomie ein fragmentarisch ausgeführtes Forschungsprogramm ist, kann man sich nicht mehr dogmatisch auf eine vermeintlich fertige Theorie stützen, sondern muss angeben, auf welche Teile dieses Forschungsprogramms man sich bezieht und wie man mit den dort vorfindlichen Lücken und Ambivalenzen umgeht. Die Probleme reichen vom Verhältnis von Wert- und Geldtheorie über die Beziehung von kapitalistischer Produktion und Austausch bis zur Bedeutung des Kredits für die Krisenprozesse und die Bedeutung des Staates. Man muss sich auf die Diskussion dieser kategorialen Probleme einlassen, statt dogmatisch zu behaupten, sie seien bei Marx alle schon gelöst.

Wie steht es aus Ihrer Perspektive um die internationale Rezeption der MEGA? Und wie ist der Stand bei den Übersetzungen des »Kapitals«?

In China und Japan ist das Interesse an der MEGA schon seit Langem sehr groß. In den letzten 10 bis 15 Jahren wurde sie auch in Lateinamerika und in einigen europäischen Ländern verstärkt wahrgenommen. So gab es unter anderem in Brasilien, Italien, Slowenien, Griechenland und im Iran Neuübersetzungen des »Kapitals« auf der Grundlage der MEGA, in Südkorea wurden einzelne Bände sogar komplett übersetzt. In den USA erschien eine Übersetzung des Originalmanuskripts des dritten »Kapital«-Bandes, an einer Neuübersetzung des ersten Bandes wird derzeit gearbeitet. Wissenschaftlichen Austausch gibt es auf internationalen Konferenzen, wobei es meistens nicht um die MEGA als solche geht, sondern am jeweiligen Thema diskutiert wird, welche neuen Einsichten aus der MEGA folgen.

Sie schreiben an einer vierteiligen Marx-Biografie, deren erster Teil 2018 erschien. Wie kam es zu diesem Schritt, weg von der unmittelbaren Auseinandersetzung, hin zu einer umfassenden Darstellung von Leben und Werk? Spielen hier die Erkenntnisse aus der MEGA auch eine Rolle?

Das Marx’sche Gesamtwerk ist nicht einfach ein Torso, es ist eine Serie von Torsos: Anfänge, Abbrüche, Neuanfänge mit veränderten theoretischen Koordinaten, erneute Abbrüche. Die einzelnen Arbeiten sind einerseits Ausdruck des jeweiligen Kenntnisstands von Marx, andererseits handelt es sich bei ihnen stets um politische Interventionen, die in bestimmte Debatten und Konflikte eingreifen. Ein »materialistisches« Verständnis der Marx’schen Texte, das sich nicht nur auf die darin formulierten Vorstellungen bezieht, sondern nach den materiellen Bedingungen ihrer Produktion fragt, setzt voraus, dass wir sowohl die Marx’schen Lernprozesse als auch die politischen Konflikte untersuchen, auf die diese Texte abzielen. Damit sind wir schon mitten in der Biografie von Marx. Allerdings nicht in einer Biografie, die möglichst viele Anekdoten aneinanderreiht und sich in psychologischen Spekulationen ergeht, auch nicht in einer Biografie, die nur auf Marx fokussiert, sondern einer, die nach den gesellschaftlichen, persönlichen und intellektuellen Konstitutionsbedingungen des Marx’schen Werkes fragt. Die MEGA, die nicht nur die Texte originalgetreu ediert, sondern auch über deren Entstehung und über die Marx’schen Quellen Auskunft gibt, ist für so ein Unternehmen unabdingbar.

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