Internationales Sommerfestival: Spiel der virtuellen Identitäten

Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel Hamburg beginnt. Das Tanzkollektiv (La)Horde hat gemeinsam mit dem Ballet national de Marseille für eine kraftvolle Eröffnung gesorgt

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 5 Min.
Mensch gegen Maschine: Die Tanzperformance »Age of Content« auf Kampnagel
Mensch gegen Maschine: Die Tanzperformance »Age of Content« auf Kampnagel

Dass die Kunst zurück sei – und zwar mit voller Wucht, sagte Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard gestern zur Eröffnung des (sofern keine Pandemie dazwischenkommt) alljährlich das Hamburger Sommerloch aufs Beglückendste füllenden Internationalen Sommerfestivals. Und nicht nur quantitativ dürfte sie damit recht haben: 150 Veranstaltungen auf dem Kampnagel-Gelände sowie in der Elbphilharmonie, den Deichtorhallen, der Hamburger Kunsthalle und an vielen weiteren Orten der Stadt hat Festivalleiter András Siebold kuratiert.

Gleich zum Auftakt gab es dann eine Weltpremiere, die auch tänzerisch eine Wucht ist: »Age of Content« ist eine Arbeit des Choreograf*innentrios (La)Horde, das bereits mehrfach bei Kampnagels zu Gast war: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel, die unter anderem für Popstars wie Madonna arbeiten, Modenschauen und Ausstellungen produzieren, leiten seit 2019 das Ballet national de Marseille.

Ihre neueste Arbeit führt tänzerisch in die Welt der virtuellen Bilder und die Formensprache der sozialen Netzwerke. Dabei geben ein ferngesteuertes Auto, ein Haufen Kartons, eine Galerie mit beweglicher Leiter, eine raffinierte Lichtregie (Eric Wurtz) sowie Musik von Pierre Aviat und Gabber Eleganza den Rahmen vor für einen etwa 80-minütigen Abend zwischen episodischem Szenenreigen, philosophischem Überbau und musikalisch oft vehement unterfütterter Bildermacht.

Besagtes Auto ist Dreh- und Angelpunkt der ersten Szene, in der zunächst Mensch gegen Maschine ringt, während sich bald eine stetig anwachsende Gruppe von Tänzer*innen zunehmend aggressiv darum balgt, wer es nach oben auf das Auto schafft und wem es gelingt, dort zu bleiben. Was selbst das mit einer raffinierten Hydraulik bestückte Gefährt bald nicht mehr ertragen kann. In waghalsigen Manövern versucht es (vielmehr ein von der Galerie aus steuernder Mann im Overall), die so gesichtslosen wie uniform gekleideten Konkurrenzsubjekte abzuschütteln. Erfolgreich übrigens, bevor es hinter den Vorhang verschwindet.

Im nächsten Bild fällt ein Ensemblemitglied aus einer Luke in der Decke herab in den Kartonstapel, wieder entspinnen sich Kampfbewegungen, deren Bewegungssprache in ihrer rührend-ungelenken Art an animierte Computerspielfiguren erinnert, während zwei mutmaßlich von einer KI generierte Stimmen Zeilen aus Alphavilles 80er-Jahre-Hit »Forever Young« rezitieren: »Hoping for the best but expecting the worst / Are you gonna drop the bomb or not?« Was heute so unangenehm nachfühlbar ist wie einst vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs.

Im nächsten Teil geht es dann unter einem fahlen Mond eher sexuell zu, zunächst als reichlich expliziter Paar(ungs)tanz, dann nach und nach kollektiv, wobei auch hier das Miteinander oft ein Gegeneinander ist, die Kopulation kaum zu unterscheiden von den einstudierten Kampfposen des Wrestlings. Im letzten Teil explodiert »Age of Content« dann geradezu in ein ekstatisches, mit enormer Präzision getanztes Finale zu energischer Minimalmusik, in dem klassische Gesten des modernen Balletts auf Formen zeitgenössischer Popchoreografien treffen. Was eben auch bedeutet: Es ist hier weniger ein stringent durchgearbeiteter Tanzabend zu sehen, sondern eher aneinandermontierte Episoden.

Tendenziell undeutlich bleibt dabei das Verhältnis dieses Aufbaus zum philosophischen Überbau. Wörtlich ließe sich der Titel der Arbeit als »Zeitalter des Inhalts« übersetzen – was im Lichte des Getanzten ironisch auf das öde Gerede von »Content Marketing« und »Content Creators« rekurrieren mag. Zugleich greift das Stück, durchaus mit ästhetischem Gewinn, Bewegungsformen zeitgenössischer populärer Kultur auf. Dass dabei, wie (La)Horde verlauten lassen, »die Fülle an Inhalten und gleichzeitigen Realitäten unserer Zeit« hinterfragt werden soll, mag eine episodische Form nahelegen, auch wenn sie eher Abfolge als Gleichzeitigkeit ist. Dass dem Spiel der virtuellen Identitäten neben einer gewissen Beliebigkeit auch nicht wenig Brutalität eingeschrieben ist, selbst dann noch, wenn es um die Begegnung zwischen zwei Menschen geht, scheint allerdings zweifellos ein Ergebnis der Hinterfragung. In der überschäumenden Energie des beglückenden Finales schrumpfen solcherlei Fragen aber eher zur Petitesse zusammen.

Zu erleben ist das in Hamburg noch mal am Freitag und Samstag (Mitte August im Rahmen von Tanz im August auch in Berlin). In den kommenden Wochen gibt es beim Internationalen Sommerfestival aber nicht nur einige weitere Weltpremieren, sondern ganz sicher auch noch etliche Glücksmomente mehr zu erleben. Beispielsweise bei Florentina Holzingers »Ophelia’s got talent«, das laut der Jury des Berliner Theatertreffens Ophelias Gang ins Wasser zur »Empowerment-Strategie« umdeutet (17. bis 19. August, 19.30 Uhr). Oder bei der Welturaufführung der multimedialen Performance »Azúcar« von Antonya Silva, die Ermächtigung im Kontext von kolonialer und diasporischer Erfahrung thematisiert. Oder bei »Heart of brick« von Serpentwithfeet, Raja Feather Kelly und Wu Tsang, das die Geschichte eines schwulen Nachtclubs und eine darin verortete Liebesgeschichte erzählt (11. und 12. August, 21 Uhr; 13. August, 19.30 Uhr).

Potenziell beglückend ist wie gewohnt auch das Konzertprogramm des Sommerfestivals, das in diesem Jahr unter anderem das legendäre Sun Ra Arkestra unter der Leitung des fast 100-jährigen Marshall Allen willkommen heißt (16. August). Außerdem haben sich Techno-Vater Jeff Mills (19. August, 20 Uhr, Elbphilharmonie), Ethio-Jazz-Schöpfer Mulatu Astatke (23. August, 20 Uhr, Elbphilharmonie) und Derya Yildirim (26. August, 21 Uhr, St.-Gertrud-Kirche) angesagt, und natürlich gibt es auch noch Theater, Ausstellungen sowie allerlei Jux und Dollerei – einschließlich eines Casinos im Garten des Kulturzentrums.

Nächste Vorstellungen: 11., 12. (Hamburg), 23. und 24. August (Berlin)
www.kampnagel.de
www.tanzimaugust.de

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