Mario Tronti: Über Arbeiter und die Partei

Zum Tod des Philosophen und marxistischen Politikers Mario Tronti

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer wird denn da am Schlaf der Welt rühren? Der Abgesandte der postleninistischen Sowjetunion Frol Kozlow übergibt an den PCI-Politiker Palmiro Togliatti eine Flagge mit dem Konterfei des russischen Revolutionärs.
Wer wird denn da am Schlaf der Welt rühren? Der Abgesandte der postleninistischen Sowjetunion Frol Kozlow übergibt an den PCI-Politiker Palmiro Togliatti eine Flagge mit dem Konterfei des russischen Revolutionärs.

Man kann den Widerspruch, der das gesamte Leben und Werk des italienischen Philosophen und marxistischen Politikers Mario Tronti durchzog, von einem seiner Vorgänger her denken: Antonio Gramsci sprach vom »Pessimismus des Verstandes« und vom »Optimismus des Willens«. Auch Tronti stellte sich jahrzehntelang der Frage nach der Möglichkeit einer neuen Welt und beantwortete sie sowohl mit der Nüchternheit eines Wissenschaftlers als auch mit der Leidenschaft eines politischen Menschen, der an die Weiterentwicklung seines Denkens glaubte.

Tronti, in Rom geboren und Autor zahlreicher Essays, war 30 Jahre lang Dozent an der Universität von Siena. Er widmete sich der Formulierung eines politischen Denkens, das den traditionellen Marxismus erneuern und dazu beitragen wollte, wieder revolutionäre Wege im Westen zu öffnen. Im Nachkriegsitalien war er eine maßgebliche Stimme des Operaismus. Diese politische Bewegung ist vom italienischen Wort Operaio (Arbeiter) abgeleitet und versuchte mit ständigem Rekurs auf das revolutionäre Potenzial der Arbeiterklasse eine eigenständige revolutionäre Politik zu entwickeln.

Der Operaismus war zunächst gekennzeichnet durch seine grundsätzliche Ablehnung gegenüber den bestehenden Institutionen wie Gewerkschaften, aber auch der politischen Partei. In den 60er Jahren, die mit den weltweiten Revolten von Studierenden, Jugendlichen und Arbeiter*innen zu Ende gingen, war er eine Hoffnung auf einen reformulierten und lebendigen, antagonistischen Marxismus.

Maßgeblichen theoretischen Einfluss darauf hatte eine Aufsatzsammlung Trontis, die 1966 unter dem Titel »Arbeiter und Kapital« in Italien erschien und in aller Welt übersetzt und diskutiert wurde. Bis heute hat das Buch nicht an Bedeutung verloren. Der Titel deutet bereits die Vormachtstellung der Arbeiter*innen gegenüber dem Kapital an. Das klassische Verhältnis der kapitalistischen Entwicklung wurde schlichtweg umgedreht. Diese werde nicht von der Kapitalseite bestimmt, sondern von den Arbeitskämpfen. Die Arbeiterklasse wurde so der theoretische und praktische Motor der Geschichte. Die Arbeit besaß dem Kapital gegenüber logische sowie historische Priorität. Die Rangfolge von Macht und Herrschaft und revolutionärem Kampf wurde vertauscht. Dieser Gedanke ging als »kopernikanische Wende« in die Geschichte des Marxismus ein.

Bei Tronti gingen Theorie und Politik Hand in Hand. In den 50er Jahren war er als Aktivist der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) zunächst an der Zeitschrift und der Gruppe »Quaderni Rossi« beteiligt, die von Raniero Panzieri geleitet wurden. 1963 erfolgte die Trennung von Panzieri und die Gründung der Zeitschrift »Classe operaia«, die 1967 ihr Erscheinen einstellte. Tronti distanzierte sich zunehmend von der PCI, ohne sie jedoch zu verlassen.

Unter dem Generalsekretär Enrico Berlinguer orientierte sich Tronti wieder stärker an der Partei und gehörte mehrfach ihrem Zentralkomitee an. Nachdem er bei den Wahlen 1987 von der PCI erfolglos für die Abgeordnetenkammer nominiert worden war, wurde er bei der Wahl 1992 – die PCI hatte sich mittlerweile selbst aufgelöst – auf der Liste der Demokratischen Partei der Linken in den Senat gewählt. 2013 gelangte er über die – eher sozialdemokratisch ausgerichtete – Demokratische Partei erneut in den Senat. Auch nach der Niederlage »seiner« Seite, des Kommunismus, hörte Tronti nicht auf, nach Wegen des Widerstands und der Gegenmacht zu suchen.

Seinen Wandel von ökonomischen Fragen hin zum politischen Engagement leitete er bereits gegen Ende der 70er Jahre ein, als er seine Überlegungen zur Autonomie des Politischen formulierte. Die Arbeiterkämpfe übersetzten sich für Tronti nach 1968 nicht mehr direkt in politische Macht. Daher sei ihre Politisierung notwendig. Aufgabe der Politik sei es, so Tronti nun, den im Produktionsprozess auftretenden Klassenkampf durch ihre vermittelnde Funktion in die Gesellschaft hineinzuholen, um ihn dort auszutragen. Dies könne jedoch nur unter Anleitung einer kommunistischen Partei geschehen.

Hatte er in »Arbeiter und Kapital« die Autonomie der Arbeiter*innen propagiert, kehrte Tronti nun zu seinen leninistischen Wurzeln zurück. Gradmesser und Vorbild für »politischen Erfolg« wurde die russische Oktoberrevolution. Vom deutschen Juristen Carl Schmitt übernahm Tronti eine eindimensionale Freund-Feind-Unterscheidung als Kriterium des Politischen. Fragen nach der Zusammensetzung und der Neubestimmung der Arbeiterklasse spielten fortan keine Rolle mehr, nunmehr ging es um Organisationsfragen. Trontis neu eingeschlagene Richtung wird als Rechts-Operaismus rezipiert.

Mit der Selbstauflösung der PCI und dem Untergang der Sowjetunion ging auch die Zeit der (System-)Konflikte und kommunistischen Bewegungen zu Ende. Als Leninist, der am Ende doch auf die Partei hoffte, blieb Tronti da nur die Sozialdemokratie. Auf der Suche nach einer anderen und radikalen Perspektive, die von Klassenkämpfen und Autonomie der Arbeiter*innen ausgeht, kommt man an Tronti jedoch nicht vorbei.

Im Alter von 92 Jahren starb Mario Tronti am 7. August in Ferentillo in Umbrien.

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