Sechs Menschen im Ärmelkanal ertrunken

Vergangene Woche war der diesjährige Höhepunkt von Überfahrten nach Großbritannien

Mindestens sechs Menschen sind am frühen Samstagmorgen beim Versuch gestorben, Großbritannien mit einem Schlauchboot von Nordfrankreich aus über den Ärmelkanal zu erreichen. Fünf von ihnen ertranken dabei auf See, ein weiterer starb nach seiner Einlieferung mit dem Hubschrauber in das Krankenhaus von Calais. Von der dortigen Umgebung soll auch die Abfahrt der Migranten erfolgt sein. Insgesamt sollen sich bis zu 66 Personen auf dem Boot befunden haben, die meisten von ihnen aus Afghanistan, andere aus dem Sudan. Die Toten sollen afghanische Staatsangehörige sein.

In der französischen Hafenstadt wurden mindestens 36 Gerettete von einem Patrouillenboot an Land gebracht und sieben von ihnen ebenfalls in ein Krankenhaus eingeliefert. Alle anderen seien vor Ort von der Polizei verhört worden, berichtet ein AFP-Reporter. Bis zu 23 weitere Personen wurden Berichten zufolge von einem britischen Rettungsschiff in Dover an Land gebracht, auch unter ihnen hätten sich medizinische Notfälle befunden.

Die Gruppe Calais Border Monitoring rekonstruiert den Vorfall vom Samstag auf ihrer Webseite und beruft sich dabei auf französische und britische Medien. Demnach habe ein Handelsschiff gegen 4.20 Uhr die zuständige französische Leitstelle Cross Gris Nez alarmiert. Wenige Minuten später hätten Rettungsschiffe das havarierte Boot entdeckt. Dabei soll es sich um ein etwa sechs Meter langes, überladenes Schlauchboot gehandelt haben. Dessen Passagiere hätten noch versucht, mit ihren Schuhen Wasser aus dem bereits driftenden Boot zu schöpfen.

Die von der Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer eingeleiteten Ermittlungen seien noch am Samstag nach Paris abgegeben worden, berichtet Calais Border Monitoring. Auf Ersuchen von Premierministerin Élisabeth Borne habe anschließend der für Migration zuständige Staatssekretär Hervé Berville den Hafen von Calais und die Leitstelle Cross Griz Nez besucht. Die von Militärangehörigen betriebene Einrichtung ist für die Seenotrettung im Ärmelkanal vor Calais zuständig.

Die Rettung vom Samstagmorgen soll den Berichten zufolge unverzüglich erfolgt sein. Jedoch steht steht die Leitstelle wegen unterlassener Hilfeleistung bei einer anderen Havarie im Visier der Justiz. Die Staatsanwaltschaft wirft fünf dort tätigen Angehörigen des Militärs sowie zwei Soldaten an Bord eines Marineschiffs vor, in der Nacht vom 23. auf den 24. November 2021 über zehn Stunden keine Rettung eines Schlauchbootes veranlasst zu haben, obwohl dessen Insassen mindestens 15 Notrufe abgesetzt hatten. Ein Fischer entdeckte anschließend zufällig die Leichen von 27 Menschen. Insgesamt sollen in jener Nacht 31 Menschen ertrunken sein, nur zwei Männer sollen es überlebt haben.

Noch in diesem Jahr könnte wegen des Unglücks vom November 2021 der Prozess gegen die Männer und Frauen von Cross Griz Nez beginnen. Sie sollen die Notrufe nicht nur nicht ernstgenommen, sondern sogar darüber gespottet haben. Möglicherweise trugen aber auch britische Stellen vor zwei Jahren eine Mitschuld. Die dortigen Behörden hätten sich der Tageszeitung »Guardian« zufolge darauf verlassen, dass die Menschen in Seenot in französische Gewässer zurücktreiben würden. Diese Art von Pushbacks im Ärmelkanal hat auch die Organisation Alarm Phone in einer Analyse nachgewiesen.

Das neue Unglück vom Samstag ereignete sich in einer Phase, in der nach einer Schlechtwetterperiode viele Migranten die Überfahrt über den Ärmelkanal gewagt haben. Am Donnerstag sollen laut dem britischen Innenministerium 755 Personen in 14 Booten Großbritannien erreicht haben, dies wird bislang als der diesjährige Höhepunkt angesehen. Am Freitag sei weiteren 343 Personen die Überfahrt gelungen. 115 Menschen sollen indes in Seenot geraten und im französischen Seegebiet gerettet worden sein.

Ein großer Teil der im Ärmelkanal genutzten Schlauchboote soll aus der Türkei stammen und mit Motoren aus China ausgestattet sein. Vergangene Woche hat das britische Innenministerium deshalb ein Abkommen zur Polizeizusammenarbeit mit der türkischen Regierung geschlossen. Weil der Transport nach Belgien und Frankreich vorwiegend über Deutschland erfolgt, sind auch das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei in diese Ermittlungen involviert. Im vergangenen Jahr hatte die Bundespolizei bei Razzien in Nordrhein-Westfalen rund 1200 Rettungswesten sowie Bootszubehör beschlagnahmt.

»Fast 400 Menschen haben seit der Jahrtausendwende im kontinentaleuropäisch-britischen Grenzraum ihr Leben verloren«, sagt Thomas Müller von Calais Border Monitoring zum »nd«. Dabei zählt die Gruppe auch diejenigen mit, die ihr Leben beim Versuch verlieren, sich auf einem Lastwagen zu verstecken, die im Umfeld der Camps an der französischen Küste sterben oder sich das Leben nehmen. Müller fährt fort: »Wenn wir den Tod an der Grenze wirklich vermeiden wollen, wird kein Weg daran vorbeiführen, die Grenzen zu öffnen statt zu verschließen.«

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