- Politik
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Bundesweit wieder deutlich mehr rechtsextreme Aufmärsche
Auf Demonstration in Sebnitz feierten 400 Menschen den Angriff auf Geflüchtete
Die aus der rechten Szene organisierten politischen Versammlungen haben sich im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. Im ersten Halbjahr 2022 wurden bundesweit noch 35 Nazi-Aufmärsche verzeichnet. Im gleichen Zeitraum dieses Jahres waren es bereits 110 derartige Veranstaltungen.
Die Zahlen stammen aus Antworten des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfragen der Linken-Politikerin Petra Pau. Zusammen mit Abgeordneten der Fraktion fragt ihr Büro diese Zahlen quartalsweise ab. Aus diesen Bundestagsdrucksachen lässt sich die Zunahme der »von Rechtsextremisten durchgeführten oder von Rechtsextremisten dominierten Kundgebungen« deutlich nachvollziehen. Die höchste Zahl wurde demnach im Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 mit insgesamt 590 verzeichnet, bis 2021 sank diese auf 91 und damit den niedrigsten Stand seit zehn Jahren. 2022 hatte sich die Zahl dann erstmals wieder verdoppelt.
Die Linken-Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Pau verweist dazu auf eine gestiegene Mobilisierungskraft nach der Corona-Pandemie. »Mit dem Einreißen vermeintlicher Brandmauern und rechter Rhetorik von SPD und CDU im Landtags-Wahlkampfmodus besteht aktuell die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zahlen noch weiter steigen werden«, sagt Pau gegenüber »nd«. Diesen Wahlkampf auf dem Rücken von Schutzsuchenden auszutragen, sei »mehr als fahrlässig, es ist menschenfeindlich«.
Die mit Abstand meisten rechten Aufmärsche zählt das Ministerium unter Nancy Faeser (SPD) in Sachsen. Diese seien für das zweite Quartal dieses Jahres fast alle von der Partei Freie Sachsen durchgeführt worden – nur eine Anmeldung sei durch eine Einzelperson erfolgt. Drei Versammlungen hätten in Thüringen stattgefunden, angemeldet von der Partei III. Weg, der Neue Stärke Partei und einer Einzelperson. Für Mecklenburg-Vorpommern weist die Statistik zwei Anmeldungen durch die NPD und die Neue Stärke Partei auf. Nur je eine Veranstaltung wurde von den zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen (NPD), Rheinland-Pfalz (Kameradschaft Rheinhessen/ Die Rechte) und Niedersachsen (Die Rechte) festgestellt.
Ein großer Teil der von der Bundesregierung genannten Aufmärsche erfolgte vor Unterkünften von Geflüchteten. In Sachsen waren die meisten davon sogenannte »Nein zum Heim«-Demonstrationen. Diese tauchen auch in den Antworten auf Anfragen von Paus Fraktionskollegin Clara Bünger auf – die flüchtlingspolitische Sprecherin fragt diese ebenfalls vierteljährlich ab.
Im Vergleich dieser Antworten fällt auf: Offenbar werden nur Vorfälle von Parteien oder Organisationen mitgeteilt, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft werden. Auch werden lediglich Veranstaltungen gezählt, »denen in der Regel eine überregionale und/oder nennenswerte Teilnehmermobilisierung zugrunde lag«. Viele rechtslastige Proteste auch in Westdeutschland fehlen deshalb in der Übersicht. Veranstaltungen der AfD werden vom Faeser-Ministerium ebenfalls komplett ausgespart.
Als Grund für die gestiegene Zahl von rechten Aufmärschen gibt die »Neue Osnabrücker Zeitung«, die zuerst über die jüngste Antwort des Innenministeriums berichtet hat, »die stark gestiegene Zahl an Asylbewerbern und Flüchtlingen« an. Einen Beleg für diesen Zusammenhang nennt die Zeitung nicht. Tatsächlich besetzen die Rechtsextremen das Thema Migration aber in den allermeisten ihrer Veranstaltungen.
Zuletzt hatte die Partei Freie Sachsen am Montag zu einer solchen Demonstration in Sebnitz aufgerufen. Rund 400 Menschen – die Veranstalter sprechen von über 1000 – zogen unter dem Motto »Asylflut stoppen« durch die Kleinstadt von nicht einmal 9000 Einwohnern. Weitere Transparente waren beschriftet mit »Willkommenskultur für die Zerstörung unseres Sozialsystems«, »Grüne an die Ostfront« oder »Islam, nein danke«. So schreibt es der Sächsische Flüchtlingsrat, der die rechtsextreme Versammlung beobachtet hat, auf seiner Webseite. Die Polizei war demnach nur mit rund zwei Dutzend Beamten präsent. An der Spitze der Demonstration sei eine AfD-Fahne gehalten worden, die Anhänger der Partei, die in Sebnitz bei der letzten Bundestagswahl fast 40 Prozent der Stimmen erhielt, seien »freundlich durchs Mikrofon begrüßt« worden. Anschließend ertönten »Deutschland den Deutschen«-Rufe, so der Flüchtlingsrat.
Die Teilnehmer zeigten demnach auch Sympathie für den Angriff auf eine Unterkunft von Geflüchteten. Vor drei Wochen waren dabei Neonazis in das Haus eingedrungen und hatten Bewohner attackiert. Im Aufruf zur Demonstration behaupten die Organisatoren der Demonstration, der Überfall sei erfunden worden, um »von den tatsächlichen Übergriffen durch Zuwanderer« abzulenken.
Unter den Geflüchteten beobachtet der Flüchtlingsrat eine besorgte und ängstliche Stimmung, einige hätten Sebnitz deshalb bereits verlassen. Die Unterkunft sei von der Polizei während der Demonstration nicht geschützt worden.
»Sebnitz erinnert an die Pogrome der 90er. Neonazigewalt gegen Geflohene, ein Bürgermob der applaudiert und anfeuert, Polizei, die kein Schutz ist und die Rechten gewähren lässt. Die Menschen in der Unterkunft müssen mit weiteren Angriffen rechnen. Holt sie da raus«, fordert die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Martina Renner auf der Internetplattform »X«.
Der linke Bundestagsabgeordnete André Hahn, der in der Stadt ein Wahlkreisbüro unterhält, ist indes »weiterhin der Überzeugung, dass die übergroße Mehrheit der in Sebnitz lebenden Menschen keine rechtsextremistischen, ausländerfeindlichen oder antisemitischen Positionen vertritt«. Wie bei früheren Protesten seien »offenbar etliche rechte Teilnehmer von außerhalb angereist«, sagt Hahn zum »nd«. Und hofft darauf, dass die »leider zumeist schweigende Mehrheit endlich vernehmbar, also auch öffentlich, ihre Stimme gegen rechte Umtriebe und die damit verbundene nachhaltige Rufschädigung ihrer Heimatstadt erhebt«. Auch sein eigenes Büro war bereits mehrfach Ziel rechter Angriffe.
Neben der Zahl von rechten Aufmärschen fragt die Linken-Politikerin Pau auch vierteljährlich nach Rechtsrock-Konzerten. Diese sind der jüngsten Antwort zufolge etwas zurückgegangen: Im ersten Halbjahr wurden 71 Konzerte, »Liederabende« sowie »sonstige Veranstaltungen mit Musikdarbietungen« gezählt, im Vorjahreszeitraum waren es noch 89. Hier dominiert offenbar die Szene in Thüringen; Konzerte erfolgten etwa mit den Bands »Einzelkämpfer«, »Sturmrebellen«, »Heureka«, »Flak« oder »Sleipnir«. Im Durchschnitt seien diese Veranstaltungen aber nur von unter Hundert Teilnehmern besucht worden, heißt es zu den aktuellen Zahlen.
Weitere, in den Antworten nicht genannte Musikveranstaltungen seien »konspirativ angekündigt oder vorbereitet« worden, schreibt das Ministerium. Diese werden den Abgeordneten gegenüber jedoch geheimgehalten, »da die rechtsextremistische Szene daraus Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Sicherheitsbehörden ziehen und ihre weitere Vorgehensweise gezielt danach ausrichten könnte«. Zudem bestünde ansonsten die Möglichkeit, in der Szene eingesetzte V-Personen zu identifizieren.
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