Queerfeindlichkeit: »Wir haben es satt, Angst zu haben«

Gegen die zunehmende queerfeindliche Gewalt wehren sich Hunderte Demonstrierende in Kreuzberg

Kämpferische Stimmung in Kreuzberg: Demonstrierende nehmen sich den öffentlichen Raum zurück, in dem es vermehrt zu Angriffen auf queere Menschen kommt.
Kämpferische Stimmung in Kreuzberg: Demonstrierende nehmen sich den öffentlichen Raum zurück, in dem es vermehrt zu Angriffen auf queere Menschen kommt.

»Wir wollen uns frei und sicher bewegen und wir lassen uns den öffentlichen Raum nicht nehmen«, tönt es aus dem Lautsprecher in der Reichenberger Straße. Etwa 500 Demonstrierende machen ordentlich Lärm, als sie durch Berlin-Kreuzberg ziehen. Regenbogen-Flaggen, Transparente und selbstgebastelte Schilder zeugen vom Anlass der Aktion: Queere Menschen wehren sich gegen die zunehmende queer-, trans- und homofeindliche Gewalt in ihren Kiezen. »Wir laufen hier entlang, weil es einen Angriff aus homofeindlicher Motivation auf zwei Freundinnen von uns gab und niemand der etwa 15 Umstehenden eingegriffen hat«, erklären die Organisator*innen der Demonstration den Passant*innen.

Der Vorfall, welcher der Auslöser für die Demonstration am vergangenen Donnerstagabend war, ereignete sich am frühen Abend des 4. Juli in der Reichenberger Straße, Ecke Glogauer Straße. »Es war super belebt zu dem Zeitpunkt, und trotzdem hat niemand geholfen, es gab gar keine Zivilcourage«, sagt Naím, Mitorganisator*in der Demonstration, zu »nd«. Man sei zum Ort des Angriffs gegangen, um einerseits die Menschen, die sich dort aufhalten, für das Thema zu sensibilisieren und andererseits den Kiez nicht den Tätern zu überlassen. Die Demonstration sei von Menschen aus dem solidarischen Umfeld der Betroffenen auf die Beine gestellt worden, die die Tat und die Untätigkeit der Umstehenden nicht unbeantwortet stehen lassen wollten. »Dieser Angriff ist aber nur der Anlass. In ganz Berlin nehmen queerfeindliche Angriffe zu«, sagt Naím.

Diese Feststellung belegen auch die gemeldeten Fallzahlen der Berliner Register. In allen zwölf Bezirken sind die Register mit zahlreichen Anlaufstellen vertreten, um rechte, rassistische, queerfeindliche, chauvinistische und antifeministische Vorfälle aufzunehmen, die sowohl Betroffene als auch Beobachter*innen melden können. Auch über ein Online-Formular ist das möglich. »Es kommen nahezu täglich Meldungen rein und das war in den vergangenen Jahren nicht so«, sagt Kati Becker, Koordinatorin der Berliner Register, zu »nd«.

Ihr zufolge mehren sich Angriffe, Beleidigungen und Bedrohungen gegen queere Menschen in einigen Bezirken erheblich. Das berichtete auch »nd« bereits zu Monatsbeginn nach einer Auswertung der Fallzahlen in der ersten Jahreshälfte 2023. In dieser Woche erst wurden von einem 63-Jährigen mehrere antisemitische und homofeindliche Brandanschläge verübt, nämlich auf die Bücherbox am Holocaust-Denkmal »Gleis 17«, das Denkmal für die in der Nazizeit verfolgten Homosexuellen und auf den Verein lesbischer Frauen »Rad und Tat«.

»Der Täter ›Kassandros‹ war uns zunächst mit antisemitischen Schmierereien aufgefallen, die Themen wurden aber breiter«, so Kati Becker. Die Anschläge der letzten Woche seien NS-verharmlosend, lesbenfeindlich und rassistisch gewesen, »alles gepaart mit Bibelzitaten und Weltuntergangsfantasien«. Auch an einer Moschee in Neukölln habe er Flugblätter aufgehängt.

»Der Mann ist nicht Teil eines Netzwerkes oder einer extrem rechten Gruppierung, sondern handelte für sich allein«, sagt die Register-Koordinatorin. Er habe durch das Pseudonym »Kassandros« die Polizei auf die eigene Fährte gelockt, weil er dieses schon zuvor bei Schmierereien verwendete, wegen derer bereits Anklage erhoben wurde. Dies bestätigte die Staatsanwaltschaft. Die meisten anderen Menschen würden so nicht handeln, sagt Kati Becker. »Insofern steht die Anschlagsserie nicht in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der queerfeindlichen Gewalt.«

Der aktuellen Festnahme eines Täters steht die Vielzahl an Angriffen, Bedrohungen und Beleidigungen gegenüber. Damit rechtliche Maßnahmen wirksam ergriffen werden können, brauche es zunächst das Vertrauen der von Gewalt Betroffenen in Polizei und Justiz, um Vorfälle überhaupt erst zur Anzeige zu bringen, sagt Becker. »Die Erfahrung von Diskriminierung durch die Polizei wurde jahrzehntelang gemacht. Deswegen erstatten Betroffene häufig keine Anzeige. Ohne Anzeige werden Täter*innen aber nicht gestoppt.«

Gegen queerfeindliche Kampagnen und Hetze hingegen brauche es gesellschaftliches Handeln. »LGBTIQ*-Feindlichkeit hat ihre Ursache in Einstellungen und Werten, die man nicht mit den Mitteln des Rechtsstaates verändert. Hierfür braucht es Bildungsarbeit, Sozialarbeit und Zivilcourage«, sagt Becker.

Ähnlich sieht es auch der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg. Man freue sich zwar darüber, dass der Täter der Anschlagsserie gefasst worden sei und so hoffentlich keine weiteren Taten verüben können wird. Aber: »Es bleibt dabei, dass queere Menschen in unserer Stadt Hass und Ausgrenzung erleben«, sagt Pressesprecher Christopher Schreiber zu »nd«. Lege man die offiziellen Gewaltstatistiken der Polizei zugrunde, dann gebe es täglich mindestens einen Vorfall von queerfeindlicher Hassgewalt in Berlin. »Daran ändert auch die Festnahme des mutmaßlichen Täters nichts.«

In Kreuzberg wollen sich die queeren Demonstrierenden den Raum zurücknehmen, der ihnen durch Anfeindungen und Angriffe streitig gemacht wird. Es ist vor allem die Untätigkeit der Zuschauenden, die viele Menschen wütend macht. »Dass niemand eingreift, wenn Menschen queerfeindlich, rassistisch oder antisemitisch angegriffen werden, ist die Regel«, sagt auch Becker. »Wäre es normal, Zivilcourage zu zeigen und einzuschreiten, wenn eine Person attackiert wird, dann gäbe es weniger Gewalt.« Stattdessen könnten Täter*innen Gewalt ausüben, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

»Wir haben es satt, Angst um uns, um unsere Freund*innen, Genoss*innen und Familien zu haben«, sagt Aktivist*in Naím zu Beginn der Demonstration per Lautsprecher. In einer Zeit, in der sich rechtsextreme, konservative und queerfeindliche Allianzen bildeten, bliebe nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. »Wir werden die elendige Situation nicht hinnehmen.«

Die Demonstrierenden verbreiten die kämpferische Stimmung mit Parolen wie »Selbsverteidigung ist unser Recht – we will fight back (wir werden uns wehren)« oder »Wir sind immer kampfbereit – gegen Trans- und Homofeindlichkeit«. Auch Doris von »Rad und Tat«, dem lesbischen Verein, der in Neukölln angegriffen wurde, ist mit einem Redebeitrag dabei. Sie führt die zunehmenden Anschläge und Übergriffe auf eine sich rechtsradikalisierende Gesellschaft zurück. »Wir müssen aufstehen, wir müssen uns zeigen und wir müssen solidarisch sein.« Als Antwort auf den Anschlag auf den eigenen Laden in der Schillerpomenade lädt sie alle Anwesenden zu einer Solidaritätskundgebung vor Ort am Montag um 18 Uhr ein.

Ebenfalls spricht eine Person, die selbst vor Kurzem in Grünau physisch angegriffen wurde. »Wir trans Leute, vor allem trans Frauen und transfeminine Personen, werden von den faschistischen Transfeinden nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als etwas, das sie beseitigen wollen«, sagt sie hörbar bewegt ins Mikrofon. »Aber wir lassen uns das nicht gefallen, wir sind viele und wir halten zusammen.«

Die Sorge um die sich verschärfende Gefährdungslage für queere Menschen ist auf der Demonstration genauso präsent wie die Wut darüber und der Kampfgeist. »Ich habe von dem Vorfall gehört und das hat mich schon mitgenommen, weil es mich genauso selbst hätte treffen können«, sagt ein*e Demonstrationstelnehmer*in zu »nd«. Rechte Positionen seien inzwischen so gesellschaftsfähig, dass »Leute anfangen, das umzusetzen, was in Medien, in Telegram-Gruppen und in den AfD-gewaschenen Köpfen sowieso schon präsent ist«. Und: »Das finde ich sehr bedrohlich.«

Queerfeindliche Angriffe im August
  • 3. August in Friedrichshain: Zwei Männer liefen die Sonntagstraße entlang, als sie aus einer etwa achtköpfigen Gruppe heraus erst mit einer leeren Getränkeverpackung beworfen, dann mehrfach angespuckt und im Gesicht getroffen und homofeindlich beleidigt wurden. Ein auf sie geworfener Stein verfehlte sie.
  • 4. August in Mitte: Eine 15-Jährige und ein 18-Jähriger wurden in der Schillingstraße aus einer Gruppe heraus bedroht und homofeindlich beleidigt. Sie wurden von der Gruppe in die Holzmarktstraße verfolgt und dort mit Feuerwerkskörpern beworfen. Ein Mitglied der Gruppe versuchte, den 18-Jährigen zu schlagen. Die Betroffenen flohen in einen Hauseingang.
  • 9. August in Mitte: In der Wollankstraße wurde gegen 21.15 Uhr ein lesbisches Paar von drei männlichen Jugendlichen angegriffen. Die Jugendlichen kamen von hinten angerannt, schlugen einer der Frauen auf den Hinterkopf, gaben der anderen eine Ohrfeige, beleidigten sie queerfeindlich und zeigten beim Wegrennen den Mittelfinger.
  • 12. August in Mitte: Anschlag auf das Mahnmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen
  • 14. August in Grünau: Fünf trans Personen wurden gegen 19.30 Uhr aus LGBTIQ*-feindlicher Motivation an der Straßenbahnhaltestelle Bammelecke von einem Mann beleidigt und angegriffen. Er warf mit einer Bierflasche nach den Betroffenen, schlug einer Person ins Gesicht und trat und schlug die anderen. Sein Begleiter hat nicht interveniert.
  • 14. August in Neukölln: Das Schaufenster des Büros eines lesbischen Vereins in der Schillerpromenade in Nord-Neukölln wurde beschädigt. In den Innenräumen wurden verbrannte Flugblätter und Broschüren entdeckt. Die Polizei ermittelt wegen versuchter schwerer Brandstiftung.
  • 16. August in Neukölln: In einem queeren Café in der Brusendorfer Straße in Nord-Neukölln hat ein Mann randaliert und Besucher*innen bedroht. Dabei hat der Mann einen Stuhl gegen die Decke geworfen. Die Polizei nahm den Mann fest. Berliner Register/nd
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