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Gerichtsakten zur Letzten Generation: Radikales Gedankengut
»Frag den Staat« veröffentlicht Gerichtsakten zur Letzten Generation
Die Informationsplattform »Frag den Staat« hat am Dienstag Akten des Münchner Amtsgerichts zum Vorgehen gegen die Letzte Generation online gestellt. Dabei handelt es sich um drei Beschlüsse zu Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Abhörmaßnahmen gegen den bayerischen Ableger des bundesweiten Netzwerks der Klimabewegung.
Die Veröffentlichung bezieht sich auf ein Ermittlungsverfahren gegen mehrere Personen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches sowie der Mitgliedschaft in derselben. Im Mai hatte die Generalstaatsanwaltschaft München unter Berufung auf diesen Schnüffelparagrafen die Wohnungen und Aufenthaltsorte von sieben mutmaßlichen Angehörigen der Letzten Generation durchsuchen lassen. Sollte es zur Anklageerhebung kommen, drohen den Aktivisten bis zu fünf Jahre Gefängnis.
Amtliche Dokumente aus Strafverfahren zu veröffentlichen, kann in Deutschland unter dem Vorwurf »Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen« mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden. »Ich mache es trotzdem«, schreibt dazu Arne Semsrott auf dem Blog von »Frag den Staat«.
Semsrott hat »Frag den Staat« als technische Plattform für mehr Transparenz bei staatlichen Vorgängen 2011 mitgegründet. Nutzer können sich dort einen Account anlegen und darüber Anfragen bei Ministerien und Behörden in Deutschland sowie der Europäischen Union stellen. Diese müssen innerhalb einer mehrwöchigen Frist beantwortet werden, außer es stehen Geheimhaltungsgründe entgegen. In einigen Bundesländern existieren jedoch nur eingeschränkte Informationsfreiheitsgesetze.
Mit der Veröffentlichung der bayerischen Akten will Semsrott eine Debatte über die staatliche Verfolgung der Letzten Generation anregen: »Wie begründet ein Gericht diese Maßnahmen? Das ist eine wichtige Frage. Sie sollte öffentlich diskutiert und bewertet werden.«
Ein striktes Veröffentlichungsverbot für Gerichtsdokumente sei auch in Bezug auf die freie Berichterstattung der Presse verfassungswidrig, so Semsrott. Dem Risiko einer Strafverfolgung sieht er gelassen entgegen: »Sollte es deshalb zu Ermittlungen gegen mich kommen, bietet das die Chance, die Verfassungswidrigkeit des Veröffentlichungsverbots feststellen zu lassen«, sagt Semsrott »nd«.
Dieses Verfahren könnte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Er hatte in einem anderen Fall geurteilt, dass eine Veröffentlichung von Dokumenten aus Strafverfahren nur dann verboten sein könne, wenn sie die Wahrheitsfindung der Gerichte oder die Unschuldsvermutung beeinträchtige. Zudem müsse das Informationsinteresse der Presse abgewogen werden. Das deutsche Strafgesetzbuch enthält dieses Kriterium aber nicht.
In einem der veröffentlichten Beschlüsse könnte das Amtsgericht deshalb auch gegen das Grundrecht der Pressefreiheit verstoßen haben. Denn es erlaubte der Staatsanwaltschaft ab November des vergangenen Jahres, Anrufe von Journalisten bei der Letzten Generation zu überwachen. Dass es sich bei der abzuhörenden Festnetznummer um das Pressetelefon der Initiative handelte, wird im entsprechenden Beschluss aber nicht erwähnt. Dementsprechend könne es durch den Ermittlungsrichter auch keine Abwägung der Maßnahme mit dem schwerwiegenden Eingriff in die Pressefreiheit gegeben haben, folgert »Frag den Staat«.
Die offenbar unverhältnismäßige Abhörmaßnahme sollte Ende Januar 2023 auslaufen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte dem Ermittlungsrichter bekannt gewesen sein müssen, dass damit die Pressefreiheit eingeschränkt wird. In einem internen Vermerk schrieb die Kriminalpolizei laut Semsrott am 9. Januar: »Auf dem Anschluss gehen fast ausschließlich Anfragen von Medienvertretern, Studenten und Schülern ein, die um eine Presseauskunft oder ein Interview bitten.« Dieses Dokument will »Frag den Staat« aber aus Quellenschutzgründen nicht veröffentlichen.
Laut dem Vermerk lieferten die Abhörmaßnahmen aber auch keine Erkenntnisse über bevorstehende Aktionen, die nicht bereits aus Pressemitteilungen oder -konferenzen der Letzten Generation bekannt waren. Trotzdem verlängerte der zuständige Ermittlungsrichter die Überwachung weiter.
Mit den Überwachungs- und Durchsuchungsmaßnahmen wollte die Staatsanwaltschaft die »straffe Organisationsstruktur« der Letzten Generation aufdecken. Verdacht erregte bei den Ermittlern, dass Verantwortliche dort »als Bienenkönig oder Bienenkönigin« bezeichnet wurden. Dieses Kernteam bestehe aus »noch nicht identifizierten Hintermännern«, heißt es in einem der veröffentlichten Beschlüsse. »Die Letzte Generation rekrutiert laufend neue Mitglieder und veranstaltet dazu auch eigene Treffen«, argwöhnt der Richter darin und behauptet: »Nach außen gibt sich die Vereinigung zwar gewaltfrei, die Vereinigung propagiert aber stetig weitere Eskalation.«
Semsrott vermutet, dass der bayerische Ermittlungseifer vor allem politisch motiviert ist. Dafür spricht, dass der Richter in den Beschlüssen auch auf Politiker verweist, die eine strafrechtliche Ahndung gefordert haben. Das Amtsgericht vermutet den Feind ganz links: In einem der drei Dokumente werden die Polizisten aufgefordert, nach Gegenständen, Unterlagen und Dateien zu suchen, »die Aufschluss über linksradikales verfassungswidriges Gedankengut« der Beschuldigten geben.
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