NRW-Linke will Demirel und Rackete in Brüssel sehen

Partei stellt sich auf Zeit nach Wagenknecht ein

Özlem Demirel will wie schon 2019 ins Europaparlament einziehen.
Özlem Demirel will wie schon 2019 ins Europaparlament einziehen.

Wie schwer es die Linke hat, war am vergangenen Samstag in Kamen zu sehen. Die nordrhein-westfälische Linke hatte zum Landesrat eingeladen. Es wäre leicht zu schreiben, dass die Partei in einem desolaten Zustand ist. Die Mitgliederzahl ist stark rückläufig, das Geld droht knapp zu werden, eine Arbeitsgruppe soll eingerichtet werden und Einsparpotenziale prüfen, und am Nachmittag musste der Landesrat feststellen, dass er nicht mehr beschlussfähig war. Zu viele Delegierte waren gar nicht erst gekommen und zu viele hatten den Parteitag frühzeitig verlassen.

Also ein weiteres Kapitel im Niedergang der Linken, das dazu noch vom üblichen Streit begleitet war; mit einem Landesgeschäftsführer, der nach einer Debatte die Aufforderung aussprach: »Wer nicht ehrlich sagt, dass er an der Zukunft dieser Partei arbeitet, der soll den Raum verlassen.« Mit Delegierten, die ihrem Landesvorstand vorwarfen, »eine zeitverkürzende Maßnahme für das Überleben der Partei« zu sein, oder nicht »pfleglich« mit den Mitgliedern umzugehen. Erwähnenswert auch: Von den sechs über die nordrhein-westfälische Landesliste in den Bundestag gewählten Abgeordneten war mit der Landesvorsitzenden Kathrin Vogler nur eine anwesend.

Die Linke in NRW also an einem neuen Tiefpunkt? Einer, der das so sieht, ist Diyar Agu. Der 23-Jährige ist Fraktionsvorsitzender der Linken im oberbergischen Gummersbach. Beim Landesrat erklärt er, mit Sahra Wagenknecht könne die Partei bei zwölf Prozent stehen. Er wolle keine Politik für »reiche Grünen-Wähler« machen und hoffe, dass einige in der Parteiführung »ihren Klassenkompass wiederfinden«. Gegenüber »nd« zeigte er sich enttäuscht vom Landesrat, dieser sei ein Vorgeschmack dessen, was passiert, »wenn ein wichtiger Teil wie die traditionelle Linke die Partei wirklich verlassen sollte, wenn Mitglieder und Funktionäre gehen«. Dann sei nicht nur ein Landesrat beschlussunfähig, sondern die Partei »nicht mehr handlungsfähig«.

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Dabei brauche das Land gerade eine starke Linke, dem werde sie »im aktuellen Zustand aber nicht gerecht.« Die Parteiführung vertreibe stattdessen mit ihren Beschlüssen gegen die Friedenskundgebung im Februar und »mit Äußerungen, die Zukunft der Linken sei eine ohne Sahra Wagenknecht, nicht nur ihre Wähler, sondern auch ihre eigenen Mitglieder«. Diyar Agu sagt, ihm sei es immer wichtig gewesen, »in einer pluralen Partei im Dialog zu sein«. Er habe immer auf Veränderungen gehofft, nach dem Landesrat ließe sich das »aber immer mehr ausschließen«. Was den Umgang miteinander, aber auch den inhaltlichen Kurs und die Strategie der Partei angeht, ist Agu fast hoffnungslos. Ob er die Partei verlassen und bei einem Wagenknecht-Projekt mitmachen will? »Das ist keine Frage, die für mich jetzt ansteht. Im Moment bin ich Mitglied der Linken«, so Agu.

Menschen wie Diyar Agu möchte Kathrin Vogler gerne in der Partei behalten. »Auch diejenigen, die Wagenknecht inhaltlich nahestehen, gehören in diese linke Partei, wenn sie das wollen«, so die Landesvorsitzende zu »nd«. Man müsse sich vom alten »Für-oder-gegen-Sahra-Spiel« befreien und alle müssten »ihre eigene Rolle und ihre Beziehungen zu den anderen in der Partei neu definieren«. Das sei zwar »noch etwas ruckelig«, aber Vogler ist zuversichtlich, »dass wir genug gemeinsam haben, dass das richtig gut werden kann«.

Mit gutem Willen konnte man diese Gemeinsamkeiten beim Landesrat auch schon beobachten. Hauptthema waren schließlich die Europawahl und eine Empfehlung des Gremiums für die Aufstellung von Özlem Alev Demirel. Demirel ist Teil des vom Bundesvorstand vorgeschlagenen Spitzenquartetts. Seit 2019 sitzt sie im europäischen Parlament, war dort an der Erarbeitung der Mindestlohnrichtlinie beteiligt, setzt sich gegen die Abschottung der Europäischen Union ein und kritisiert die immer weiter steigenden Militärausgaben. In der nordrhein-westfälischen Linken hat Demirel eine lange Geschichte. Sie saß in der Landtagsfraktion von 2010 bis 2012 und war später Landessprecherin.

Es wäre ein Leichtes für den Landesrat gewesen, einfach ein Votum für Demirel abzugeben. Aber einige Delegierte wollten auch über den Vorschlag, Carola Rackete aufzustellen, diskutieren. Zwei Kreisverbände stellten den Antrag, die NRW-Linke solle die Vorstellung des Spitzenteams durch den Bundesvorstand nicht »widerspruchslos hinnehmen«, insbesondere »die Nominierung von Carola Rackete auf Listenplatz 2« sei abzulehnen. Auf der Pressekonferenz von Rackete und Aktivist*innen aus Bewegungen sei »eine radikale Erneuerung der Partei unter anderem auch in der Außen- und Sicherheitspolitik« gefordert worden. »Unüberhörbar« sei ein »klares Ja der Linken zu Waffenlieferungen« für die Ukraine verlangt worden. Racketes Aufstellung würde mit diesen Positionen dazu führen, dass der Linken »jede Orientierung und die Reflexionsfähigkeit« verloren gehe.

Der Antrag wurde nicht zur Abstimmung gebracht, nachdem die Beschlussunfähigkeit des Landesrats festgestellt wurde. Ein zweiter Antrag der Sozialistischen Linken, die NRW-Linke solle sich für eine Kandidatur von Özlem Alev Demirel auf den ersten beiden Plätzen einsetzen, wurde zurückgezogen. Demirel selbst hatte nachdrücklich darum gebeten. Sie erklärte, dass sie auch einige Äußerungen aus dem Team Rackete und die Art, wie diese kommuniziert worden seien, kritisch sehe. Aber sie habe mit der ehemaligen Sea-Watch-Kapitänin gesprochen, und Rackete sei bereit, mit Demirel zu Veranstaltungen zu gehen und dort auch über Außenpolitik und Militarisierung zu sprechen. Und schließlich erinnerte Demirel an die Reaktion des rechten stellvertretenden Ministerpräsidenten von Italien, Matteo Salvini: »Salvini hat die Europawahlen zu einem Referendum zwischen ›seinem‹ Europa und dem von Carola Rackete erklärt. Ich bin stolz, an der Seite von Carola Rackete zu kandidieren.« Eine Position, die beim Landesrat auf Zustimmung stieß. Das Votum für Demirels Kandidatur fiel mit 65 Ja- und einer Nein-Stimme eindeutig aus. Ihr Versprechen an die Partei: für eine Zukunft kämpfen, die fair und gerecht ist, »für alle Menschen, egal wo sie herkommen, welches Geschlecht oder welchen Glauben sie haben«.

Darauf kann man sich in der nordrhein-westfälischen Linken einigen. Und die Europa-Diskussion beim Landesrat zeigte auch, dass die Delegierten fair und sachlich miteinander umgehen können, auch wenn sie unterschiedliche Positionen haben. Das kann hoffnungsfroh stimmen.

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