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  • Boris Lurie: »In Riga. Aufzeichnungen«

Ein Überlebensschuldiger

Die Struktur des Gettos: Postum sind die Erinnerungen des radikalen Künstlers und Shoah-Überlebenden Boris Lurie an seine Kindheit und Jugend erschienen

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 5 Min.
Umgeben von der eigenen Geschichte: Boris Lurie in seiner Wohnung, 2004
Umgeben von der eigenen Geschichte: Boris Lurie in seiner Wohnung, 2004

Vor zwei Jahren erschien aus dem Nachlass des 2008 verstorbenen Maler- und Collagen-Künstlers Boris Lurie dessen verstörender BDSM-Roman »Haus von Anita« zum ersten Mal auf Deutsch. Darin verarbeitete er auch seine empfundene »Überlebensschuld« gegenüber den von deutschen Nazis und deren lettischen Kollaborateuren ermordeten jüdischen Angehörigen und vor allem dem weiblichen Teil seiner Familie. Sein Alter Ego dient in dem erwähnten Roman als einer von mehreren männlichen Sex-Sklaven in einem von Frauen besuchten Etablissement in Manhattan.

Der 1924 in Leningrad geborene Boris Lurie wuchs in Riga in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie auf. Mit seinem Vater Ilja Lurie überlebte er »arbeitsfähig« mehrere Konzentrationslager und wurde 1945 in einem Außenlager des KZ Buchenwald in den Munition herstellenden Polte-Werken in Magdeburg befreit. Beide wanderten 1946 nach New York City aus, und Boris Lurie begann intensiv künstlerisch zu arbeiten.

1959 begründete er mit Sam Goodman und Stanley Fisher die NO!art, die in einer Coop-Galerie in der 10. Straße der Lower East Side unter Einbeziehung vieler heute berühmter Künstlerinnen und Künstler brisante politische Installationen und Environments schuf, deren Radikalität ihresgleichen suchte.

1964, nach dem Tod des wohlhabenden Vaters, erbte Boris Lurie und trat in die väterlichen Fußstapfen mit Immobilienbesitz und erfolgreicher Börsenspekulation, ohne jedoch seinen luxusfreien Lebensstil zu ändern. Mit diesem Vermögen operiert nun die Boris-Lurie-Art-Foundation (BLAF) und verschafft dem Werk Luries weltweit mit musealen Ausstellungen und Katalogen Rezeption und Reputation.

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Viele Jahre lang stand Lurie von den 70er Jahren an vor einer seiner Schreibmaschinen und tippte meist nachts Seite um Seite Prosa und Lyrik auf Englisch, Deutsch und Russisch. In den hinterlassenen Stapeln von Textkonvoluten befinden sich auch die Erinnerungen an seine Reise zurück nach Riga, die er 1975 unternahm.

Die in der Sowjetunion geborene und heute in Berlin lebende Schriftstellerin und Künstlerin Julia Kissina edierte 2019 für die BLAF »In Riga. A Memoir« und stellte der englischen Ausgabe ein Vorwort voran, das leider nicht in die deutsche Fassung übernommen wurde. Darin deutet sie den Umfang der hinterlassenen Schriften an, aus denen sie als einen ersten Teil der geplanten weiteren Veröffentlichungen die Riga-Erinnerungen kompilierte.

Lurie beschreibt darin seine Eindrücke von einer für ihn völlig veränderten Stadt und gleicht diese mit seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen ab. Im Zentrum stehen die Schilderungen der Getto-Zeit unter der deutschen Besatzung, die Tortur und Angst vor der täglich drohenden Selektion und Exekution durch die SS und die lettischen Kollaborateure. Gettostruktur, Hierarchie, Judenräte, Schleichhandel und die überlebensnotwendige Zwangsarbeit lässt er in vielen dicht erzählten Passagen Revue passieren.

1975, beim Gang durch die Stadt, fragt er sich, was die Menschen, denen er begegnet, über die Pein, das Getto und die ermordeten Juden wissen und ob sie vielleicht selber Helfershelfer oder gar SS-Angehörige waren. Er durchwandert die Straßen, aus denen in seiner Vorstellung das Blut aus dem Boden schießen müsste. Die Zeitebenen von Reise und Erinnerungen vermischen sich und verbinden sich manchmal sogar in einem Satz. Das Kiefernwäldchen in Rumbula außerhalb Rigas ist der magische Ort mit blutdurchtränkter Erde. Dort wurden Luries Mutter Shaina, seine Großmutter, seine Schwester Jeanna und seine erste Liebe, Ljuba Treskunova, 1941 erschossen und in Gruben verscharrt.

Erschütternd und höchst berührend sind Luries zärtliche, in Worte geflossene Gedanken an Ljuba: »Ich umarme Ljuba in dem leeren schneebedeckten Hof an der Mazā-Kalnu-Straße. Sie küsst mich mit großer Wärme. Wir stehen da, aneinandergelehnt. Eine unserer seltenen Umarmungen, und unsere letzte. Ein paar Tage später ist Ljuba fort.«

»Fort« ist die lakonische Formel für erschossen und in Gruben verscharrt, zusammen mit 26 500 anderen Juden, die in den Massengräbern in Rumbula liegen. Rumbula markiert für Lurie Schmerz und empfundene Schuld, die Ermordeten im Stich gelassen und überlebt zu haben. Am Ende, schon im Flugzeug sitzend, stellt er sich die rhetorische Frage: »Lasse ich Rumbula wirklich zurück? Nein, das tue ich nicht, doch körperlich fliege ich davon.«

Rumbula begleitete ihn den Rest seines Lebens. Ein Jahr nach der Reise notiert Lurie: »Es gab den Versuch (der jetzt weitgehend stockt), dieses Buch zu schreiben; durch eine solche Niederschrift die Dinge zu klären und vielleicht zu einer Lösung zu kommen.« Es bleibt für ihn eine Aporie, wie seine Selbstbeschreibung nahelegt: »Jude, Russe, aufgewachsen in Lettland, amerikanischer revolutionärer Künstler, amerikanischer Bürger, von Ferne israelischer Patriot und Zionist, blutendes Herz, mein Heimatort das ferne Rumbula …«

Wer seine Wohnung in Uptown und sein Studio in Downtown Manhattan gesehen hat, weiß, dass er umgeben war von Fotografien und an die Wand gehefteten Artikeln über die Vernichtung in Rumbula, Libau und in den Konzentrationslagern. Das Buch ist eine erschütternde und wichtige Lektüre. Ein kleiner Wermutstropfen: Lurie als einem Wanderer zwischen Englisch, Russisch, Hebräisch und Deutsch kam manchmal offenbar das Gefühl für einzelne Wörter abhanden. Und besonders in der deutschen Übersetzung fallen ärgerliche Sprachblüten auf, zum Beispiel »zufriedener Park« oder »muskulös-fette Arme«, die durch ein sorgfältigeres Lektorat hätten vermieden werden können.

Boris Lurie: In Riga. Aufzeichnungen. A. d. Engl. v. Joachim Kalka. Wallstein, 224 S., geb., 23 €

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