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Die andere Seite der Gewalt
Täter werden für ihre Straftaten verurteilt – aber was passiert mit den Opfern?
Der Linoleumboden eines typischen Einzelhaftraums in deutschen Gefängnissen hat eine Fläche von neun Quadratmetern. Gitter aus Stahlbeton verhindern den Sonneneinfall durch ein Fenster mit Hofblick. Die größte Justizvollzugsanstalt in Deutschland steht in Bielefeld-Brackwede. Dort liegt in jedem Haftraum eine dünne, schmale Matratze mit einer Hülle aus pflegeleichtem, blauem Gummi. Das WC in einer Ecke ist aus Stahl, das kleine Waschbecken auch. Darüber hängt ein Spiegel, daneben gibt es eine Steckdose und eine Sprechanlage mit rotem Notfallknopf.
Manche Gefangene verbringen 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle. »Es ist schon richtig Strafe, mehrere Jahre lang so einzusitzen. Das ist kein Urlaub«, sagt Stefan Exner, grauer Bart, zurückgekämmte Haare. So einen Haftraum hat er während eines Gefängnisbesuchs betreten, als Teilnehmer eines Täter-Opfer-Kreises. »Ich bin 57 Jahre alt, von Beruf Kraftfahrer.«
Jetzt steht der kräftige Mann im Flur seiner Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Er öffnet die Tür und geht zum Tatort. Über die schreckliche Situation, an die er sich sein Leben lang noch oft erinnern wird, spricht er nicht gerne. »Wenn man Hilferufe hört, dann muss man hin und helfen. Das geht gar nicht anders.«
Von der schmalen Straße aus blickt er eine steile Böschung hinauf. Das Waldstück beginnt neben dem Bürgersteig, direkt hinter einer anderthalb Meter hohen Mauer. »Ich bin da oben aus dem Wald gekommen. Hier stand das Fahrzeug der Frau. Der Mann würgte sie am Hals, aber sie konnte noch panisch um Hilfe schreien. Erst mal habe ich laut gebrüllt: ›Ich komme!‹ Damit sie irgendwie wusste, dass Hilfe naht. Da hat er sie fallen lassen und ist in einem Satz diese Mauer hier hoch. Es ging sofort los. Er brüllte: ›Ich schlag dich tot.‹ Und das hat er dann versucht.«
Der athletische junge Mann packte den deutlich älteren Stefan Exner und schlug auf ihn ein, ohne jegliche Skrupel. »Mir war sofort klar: Der ist psychisch krank und in einer Psychose. Deshalb ist er jetzt auch in einer forensischen Psychiatrie und nicht in einem normalen Knast.«
Körperlich ist Stefan Exner heute wieder fit. Während er erzählt, fahren einige Autos vorbei. »Wenn damals so viel Verkehr gewesen wäre wie jetzt, dann hätte mich vielleicht irgendwer gerettet. Aber sonntagmorgens um sechs war hier nichts los.«
Als Erstes bekam er einen Schlag auf die eine Augenbraue, dann auf die andere. Auch die Lippe platzte auf. Sein Gesicht war voller Blut, die Brille zertrümmert. »Der ist einfach nur vorwärts. Als ich zu Boden ging, habe ich gedacht: ›Bloß nicht bewusstlos werden, der tritt dir den Kopf kaputt.‹«
Scheinbar endlose Minuten lang hatte Stefan Exner nur einen Gedanken: Überleben. Derweil waren mehrere Fußgänger stehen geblieben. Niemand traute sich, einzugreifen. Zumindest hat jemand die 110 gewählt. Die Schläge gingen weiter. »Bis dann endlich die Polizei auftauchte, mit drei Streifenwagen. Das waren auch junge, kräftige Kerle. Die haben sich zu dritt auf diesen Täter gestürzt. Trotzdem hatten sie massive Probleme, ihm Handschellen anzulegen.«
Stefan Exner ist kein nachtragender Mensch. Er ist froh, dass die Frau und er selbst überlebt haben und dass der Täter jetzt Hilfe bekommt. »Der war obdachlos, drogenkrank, psychisch krank. Das ist kein gutes Leben. Jetzt wird er betreut und bekommt seine Medikamente. Ich denke, die Psychiatrie ist der richtige Ort für ihn.«
Nach einer ersten Notarztbehandlung folgten sechs Wochen mit Schmerzen und Krücken. Dann konnte Stefan Exner wieder normal laufen. Zwei Jahre später bekamen er und vier weitere Gewaltopfer eine Einladung zur Teilnahme an einem Täter-Opfer-Kreis. Einer der Täter war sehr beeindruckt von Stefan Exners Geschichte. »Vor allem, dass er Zivilcourage gezeigt hat und der Frau geholfen hat.«
Der Häftling möchte seinen Namen nicht nennen. Über seine kriminelle Karriere spricht er lieber anonym. Der blonde Mann hat die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens im Knast verbracht. Zehn Jahre geschlossener Vollzug, acht liegen noch vor ihm. »Was bin ich für einer? In diesem Kontext bin ich vor allen Dingen Täter. Was soll ich sonst sagen? Nach mehreren schweren Straftaten ist das doch klar.«
In seiner Jugend sei die Beziehung zu den Eltern schwierig gewesen. Kurz nach seinem 16. Geburtstag wurde er das erste Mal verurteilt, ein Raubdelikt. Schon damals hat er Drogen genommen. »Wenn ich konsumiere, ist das fatal. Mit Kokain verändert man sich. Da sinken die Hemmschwellen. Aber das geht vielen anderen auch so, und die werden nicht zu Tätern. So sehe ich das.«
Stefan Exner hatte nie Kontakt zum deutschen Justizwesen, bis er selbst Opfer einer Gewalttat geworden ist, weil er einer Frau das Leben gerettet hat. »Ich habe versucht, bei der Polizei den Namen der Frau zu bekommen. Ich wollte die kennenlernen und wissen, wie es ihr geht. Datenschutz, kriegte ich nicht.«
Auch als er um Ersatz für seine zerstörte Brille bat, bekam er keine Unterstützung. »Die Versicherung sagte, ich müsse beweisen, dass der Täter kein Geld hat. Also versuchte ich, den Namen des Täters zu erfahren. Datenschutz, habe ich nicht bekommen. Ich fühlte mich komplett alleine gelassen.«
Dann endlich hatte er Glück. Ein Freund machte ihm den Vorschlag, sich an den Weissen Ring zu wenden, den gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Verbrechensopfern. »Ich habe da angerufen und so Frau Haase kennengelernt. Sie sagte: ›Herr Exner, Sie sind jetzt nicht mehr alleine. Wir helfen Ihnen.‹ Das war grandios. Zwei Jahre nach der Tat bekam ich endlich eine Traumatherapie bewilligt.«
Ilse Haase war Verwaltungsangestellte der Polizei und hat dann viele Jahre lang ehrenamtlich Verbrechensopfer betreut. So hat sie ab und zu Kontakt zu Cornelia Wylenzek vom psychologischen Dienst der Justizvollzugsanstalt, obwohl der sich normalerweise ausschließlich mit Tätern beschäftigt. »Mir war immer klar, dass die Betroffenen vernachlässigt werden«, sagt die Diplompsychologin, die seit dem Jahr 2012 im Vollzug tätig ist. »Die Opfer unserer Häftlinge bekommen keine Angebote, um auszusprechen, was ihnen passiert ist.«
Diese Wahrnehmung entspricht der Erfahrung von Stefan Exner. Doch das änderte sich, als Ilse Haase vom Weissen Ring ihn fragte, ob er Lust habe, sich an einem Täter-Opfer-Kreis zu beteiligen. »Ich habe sofort zugesagt. Das ist eine so seltene Gelegenheit, dass man als Opfer die Chance bekommt, mit Tätern zu sprechen.«
Die Vorbereitungsphase bestand aus vier Sitzungen, an denen fünf Personen teilgenommen haben, die alle Opfer einer Gewalttat geworden waren. »Der Sozialarbeiter und die Psychologin der JVA haben uns wirklich gut betreut«, lobt Stefan Exner. »Es ging ja um brutale körperliche Gewalt.«
So bekam die Psychologin Cornelia Wylenzek die Möglichkeit, sich um Betroffene wie Stefan Exner zu kümmern. »Wenn der Täter verurteilt wird, werden die Opfer für sich gelassen. Im Normalfall müssen sie sich ganz alleine mit dem befassen, was ihnen zugestoßen ist.«
Die Vorbereitungstreffen fanden außerhalb der Haftanstalt statt. Zum eigentlichen Täter-Opfer-Kreis kam es dann hinter hohen Mauern und verschlossenen Türen. Die Teilnehmer des Gesprächskreises trafen sich in einem großen Saal, der sonst als Raum für Gottesdienste dient.
Normalerweise öffnet sich der Vollzug so gut wie nie für Menschen, die Straftaten erlitten haben. Der erste Täter-Opfer-Kreis in Deutschland wurde im Jahr 2016 in der Justizvollzugsanstalt Oldernburg durchgeführt. Danach ermöglichte auch die JVA Bielefeld-Brackwede solche Erfahrungen. Anfangs nahm der Häftling, der anonym bleibt, nur unter Vorbehalt teil. »Je länger wir uns vorbereitet haben, desto mehr Angst bekam ich. Werden die uns Vorwürfe machen? Werden die uns verstehen? Ich hatte richtig Schiss. Hört sich vielleicht komisch an, wenn ein Täter sagt: ›Ich hatte Schiss, auf Opfer zu treffen.‹ Aber so war das.«
Der eigentliche Täter-Opfer-Kreis begann um acht Uhr morgens. In der Nacht zuvor hatte der anonyme Häftling nur wenig geschlafen. »Ich war sehr aufgeregt. Aber dann war die Stimmung ganz menschlich. Zuerst haben wir zusammen Kaffee getrunken und ein bisschen geredet.«
Anfangs war Stefan Exner genauso nervös. Doch schon bald fühlte er sich richtig wohl in der Gruppe. »Ich hatte erwartet, dass da große, tätowierte Fieslinge reinkommen, die sich auf den Sesseln lümmeln und so eine Haltung mitbringen: ›Ja, Opfer, Versager. Ich bin besser.‹ Aber das war gar nicht so.«
Für Betroffene kann es befreiend sein, Gewalttätern davon zu berichten, welche Konsequenzen die Tat für ihr Leben hatte. Stefan Exner erinnert sich an den Bericht eines Mannes, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat: »Mit einem Baseballschläger. Da sieht man heute noch die Delle. Es ging um die Einnahmen seiner Diskothek. Er lag ein Jahr lang im Koma. Da habe ich gedacht: ›Oh Scheiße. Es ist ja noch viel Schlimmeres möglich als das, was ich erlebt habe.‹«
Auch die Täter haben von ihren Verbrechen erzählt, einer nach dem anderen. Stefan Exner war schockiert. »Die haben gruselige Dinge getan, mit extremer Brutalität.« An einige Berichte kann er sich besonders gut erinnern. »Der eine war mit Leib und Seele Altenpfleger. Ein Mann, der sich von montags bis freitags rührend um alte Menschen gekümmert hat. Und am Wochenende war der Hooligan, mit einer unglaublichen Brutalität. Eines Abends saß er mit Freunden zusammen. Weil sie Bier brauchten, haben sie einen Bus überfallen, mit vorgehaltener Waffe. Beim Rausgehen schlug er dem Busfahrer mit dem Knauf seiner Pistole den Schädel ein. Der Mann ist heute schwer behindert. Und der Täter war so ein netter Kerl, Altenpfleger.«
Der Gesprächskreis hat die Häftlinge unmittelbar mit einem Gefühl konfrontiert, das sie sonst lieber weit von sich schieben: Scham. »Vor allem die Scham gegenüber Menschen, die man verletzt hat. Aber auch gegenüber der eigenen Familie, die man im Stich lässt. Ich bin hier und kann nicht für sie sorgen.«
Stefan Exner kann sich noch gut erinnern, wie sehr ihn diese Scham beeindruckt hat. »Da war ein bulliger Typ, Glatze, schöner Bart. Der konnte sich erst gar nicht überwinden, was zu sagen. Der hat geweint wie ein Schlosshund. Das war schon irre. Dann hat er doch erzählt, dass er seine schwangere Frau erstochen hat. Nicht nur einfach erstochen, er hat sie niedergemetzelt. Der hat sich mehr als geschämt. Und bei den anderen war das auch so.«
Nach acht Stunden war der Täter-Opfer-Kreis zu Ende. Stefan Exner hätte gerne mehr Zeit gehabt. »Für uns alle war das eine bereichernde Erfahrung, und ich bin mir sicher, dass wir eine positive Veränderung erreicht haben.«
Auch der anonyme Häftling ist mit einem guten Gefühl aus dem Gesprächskreis rausgegangen: »Vor allen Dingen habe ich die Hoffnung, dass es keine neuen Opfer mehr geben wird, keine neuen Opfer von mir.«
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