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»Identitätspolitik«: Nach der Aufklärung
Cancel Culture, sprachmagisches Denken und blinder Aktivismus: In seinem neuen Buch nimmt der Dramaturg und Publizist Bernd Stegemann die »Identitätspolitik« auseinander
Dem einen oder anderen sind noch die Skandale der vergangenen Jahre erinnerlich. Donald McNeil, über Jahrzehnte Wissenschaftsredakteur der »New York Times«, wurde vor zwei Jahren seines Jobs entledigt, weil er zitierenderweise das »N-Wort« ausgesprochen hatte. Mit ihrer Bühnenadaption des Wenderomans »89/90« wurde die Regisseurin Claudia Bauer 2017 zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen; auch hier sollten auf Geheiß der Festivalleitung durch professionelle Schauspieler dargestellte Neonazis keinesfalls das inkriminierte Wort sagen dürfen und also nicht wie Neonazis auf der Bühne auftreten. Im vorvergangenen Jahr wurde eine wochenlange Debatte in den Feuilletons ausgefochten, die sich um den Schriftsteller Max Czollek drehte; dieser sah sich als Opfer (allerdings mit reichlich Zuspruch), da sein jüdischer Schriftstellerkollege Maxim Biller die »gefühlte« jüdische Identität Czolleks infrage stellte. Empfindlichkeiten allenthalben. Und all das sind skandalträchtige Phänomene dessen, was unter dem Stichwort Identitätspolitik erhitzt debattiert wird.
Bernd Stegemann hat sich in einem schmalen, aber profunden Band mit dem Dauerbrennerthema auseinandergesetzt. Die oben skizzierten Fallbeispiele greift er allesamt auf, konzentriert sich aber auf die Beschreibung der »Methode Identitätspolitik« und macht anschaulich, was sie in der Konsequenz für aufgeklärte Gesellschaften bedeutet. Stegemann, der in seinen Vorgängerbüchern (u. a. »Die Moralfalle«, »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde«, »Wutkultur«) durchaus einer gutgelaunten, aber entschiedenen Polemik zuneigte, geht es dieses Mal erstaunlich nüchtern an.
Zunächst macht der Autor, der als Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch tätig ist, Identitätspolitik als archaisches Denkmuster aus, letztlich als Relikt aus voraufgeklärten Zeiten. Er führt zunächst die Unterscheidung zwischen rechter und linker Identitätspolitik ein. Gemeinsam ist beiden ein denkwürdiger Essenzialismus. Versteifen sich Rechte seit jeher auf Nation und Religion, sieht es bei linker Identitätspolitik komplexer aus. Beruft man sich hier in verschiedenen Kämpfen um Anerkennung auf Kategorien wie sexuelle Identität oder Hautfarbe, werden diese gleichsam dekonstruiert und grundlegend infrage gestellt – und sollen dennoch maßgeblich bleiben. Hier trifft die Archaik des Essenzialismus auf die Postmoderne mit dem ihr eigenen Beliebigkeitscredo.
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»In einer ersten Definition könnte man festhalten: Identitätspolitik ist Politik der ersten Person«, schreibt Stegemann in seiner Einleitung. Jenem Kampf um Anerkennung, einer persönlichen Kränkung entsprungen, hält er das Konzept des Universalismus entgegen. Sein Buch ist auch ein Plädoyer für das Prinzip Gleichheit, für die Empathiefähigkeit des Menschen und für die Wirkmacht der Kritik. Vollkommen zu Recht beschreibt er die schwierige und zum Teil widersprüchliche Aufgabe des geschichtsbewussten Universalisten darin, Kämpfe um Minderheitenrechte zu unterstützen und identitätspolitisches Handeln, das die Werte der Aufklärung verrät, gleichsam zu kritisieren.
Stegemann zeigt aber nicht nur den Widerspruch von Universalismus und identitätspolitischer Methode, sondern attackiert auch linke Identitätspolitiker für die Aufgabe der Klassenpolitik. Fürwahr, unter dem Stichwort Intersektionalität wird von diesen allenthalben die Trias sex, race, class (also Geschlecht, Ethnie, Klasse) hochgehalten. Allerdings wird mit dem Begriff Klassismus nur noch eine spezifische Diskriminierungsform angeprangert, von der Überwindung des Klassengegensatzes – seit ehedem zentrales Anliegen linken politischen Wirkens – will offenbar kaum jemand mehr sprechen.
Der soeben erschienene Band »Identitätspolitik« schwächelt an den Stellen etwas, wenn Stegemann jenseits der abstrakten Analyse konkretes identitätspolitisches Gebaren ausmachen will. Versteht er Identitätspolitik richtiggehend als Methode, nimmt er Bewegungen wie »Black Lives Matter« doch als monolithischen Block wahr und unterstellt ein identitätspolitisches Prinzip, das diesem eigen sein soll. Auch Xi Jinping, Wladimir Putin und Donald Trump seien nicht frei von Identitätspolitik – hier wüsste man gerne mehr. Und auch die Aktivisten der Letzten Generation seien von einem identitätspolitischen Denken getrieben. Überhaupt ist diese vehemente Kritik am Aktivismus insofern eigentümlich, als dass Stegemann zwar universalistische Werte als Ziel erstrebenswerten politischen Handelns ausmacht, aber nicht benennt, welchen politischen Weg er für geeignet hält.
Der Text erreicht hingegen eine erfreuliche sprachliche und inhaltliche Schärfe, wo Stegemann die »Kipp-Punkte der Identitätspolitik« ausmacht. Nicht alles davon ist neu, sondern wurde zum Teil auch von diesem Autor schon andernorts formuliert. Aber man liest die konzisen Gegenwartsbeschreibungen durchaus mit großem Gewinn.
Unter dem Stichwort »magisches Sprachverständnis« ordnet Stegemann die Erscheinungen ein, an denen sich Identitäts- und regulierende Sprachpolitik begegnen. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass ein Wort eine Wirkung haben solle, unabhängig davon, in welchem Kontext es gesagt werde. Auf ebendiesem Glauben basierten auch Flüche, Gotteslästerungen oder Zaubersprüche. Anders ausgedrückt: Das Kant-Zitat ist nicht böse, auch wenn bestimmte Worte uns heutzutage böse erscheinen wollen.
Mit dem Begriff Intimkommunikation erklärt er ein bekanntes Handlungsmuster: Das Erleben einer Person wird zur Handlungsaufforderung für eine andere. Das, was in identitätspolitischen Kreisen als Sprecherposition bezeichnet wird, wird zur Ermächtigung über andere. Eine Person erhält, essenzialistisch-identitär bedingt, eine Glaubwürdigkeit, die sie auch zum über alle Zweifel erhabenen Interpreten des anderen macht.
Mit einiger Hingabe widmet sich Stegemann auch der sogenannten Cancel Culture. Dabei werde das persönliche Unbehagen zum entscheidenden Maß für das, was in der Öffentlichkeit verhandelt werden darf und was nicht. Eine verquere Dynamik entwickelten dabei die lauten Rufe nach Verbot und Zensur, die von links und rechts ertönten. Eine hübsche Pointe gelingt Stegemann, wenn er beschreibt, wie sehr die vehemente Behauptung, so etwas wie eine Cancel Culture gebe es nicht, durchaus als ein Beispiel ebendieser betrachtet werden kann.
Und wie nun weiter nach dem Rückfall in dunkle Zeiten? Der Autor gibt sich pessimistisch. Aber vielleicht – das wird man doch noch sagen dürfen – war es auch in der Vergangenheit mit der Vernunft nicht immer so weit her, und vielleicht hat auch die Identitätspolitik selbst bereits ihren Zenit überschritten. Diese Diagnosen überlassen wir allerdings lieber den Historikern der Zukunft.
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