A100 in Berlin: Zur Hölle mit der Autobahn

20 000 Menschen protestierten tanzend gegen den Weiterbau der A100

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Samstag gegen 14.30 Uhr am Berliner Bahnhof Ostkreuz: An einer Bushaltestelle lehnt ein älterer Herr seinen Krückstock an und lässt sich ächzend auf die Sitzbank fallen. Ein Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe spricht ihn freundlich an: »Warten Sie auf den Bus oder wollen Sie nur verschnaufen?« Der Fahrgast wartet tatsächlich auf den Bus, muss aber erfahren, dass er hier jetzt nicht weiterkommt, weil der Markgrafendamm für eine Demonstration gesperrt ist. Er muss mit der S-Bahn eine Station weiter zum Treptower Park fahren und dort umsteigen.

So ist das nun leider. Dabei ist es ganz gewiss nicht das Ziel der Demonstration, den öffentlichen Personennahverkehr einzuschränken. Ganz im Gegenteil: Der Markgrafendamm wird blockiert, um gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A100 von Treptow nach Neukölln zu protestieren. Verteilt auf die Stunden zwischen 14 und 22 Uhr stellen sich insgesamt 20 000 Menschen dem Bauvorhaben in den Weg. Das Projekt bedroht mehr als 20 Klubs an der Strecke, deswegen sind sieben Bühnen aufgebaut – und neben Reden und Podiumsdiskussionen gibt es dort vor allem Musik zu hören.

Nur wenige Schritte vom Ostkreuz steht am Klub »About Blank« die erste Bühne. Dort wird auf der Straße, wie sonst in diesem Klub, zu elektronischer Musik getanzt. »Bonjour tristesse« – hier vielleicht am besten frei übersetzt mit »Hallo Trostlosigkeit« – steht auf einem schwarzen Transparent. Dabei herrscht ausgelassene Festivalstimmung. Doch der berühmte Roman »Bonjour tristesse« von 1954, den die französische Autorin Françoise Sagan mit erst 18 Jahren schrieb, erzählt vom Ende des sorglosen Lebens der 17-jährigen Cécile und traf in seiner Zeit einen Nerv. Heute am »About Blank« machen sich junge Leute Sorgen wegen der Klimakrise, wegen der Autoabgase und weil Orte, an denen sie ausgelassen feiern, unter dem Beton der Autobahn begraben werden sollen.

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David Weiser beispielsweise ist 30 Jahre alt und wohnt in der Friedrichshainer Gürtelstraße. Dort in der Nähe würde die A100 aus dem Tunnel auftauchen, in dem sie die Bahngleise am Ostkreuz unterirdisch passieren müsste. Weiser kann sich den Verkehrslärm und die Luftverschmutzung vorstellen. Darunter hätte er dann zu leiden. Aber es würde ihm auch das »About Blank« fehlen, wohin er zum Tanzen geht oder um über Politik zu diskutieren. Weiser hat seine Leidenschaft für die Politik zum Beruf gemacht. Er leitet das Berliner Büro des Brandenburger Bundestagsabgeordneten Christian Görke (Linke). Im »About Blank« hat er beispielsweise schon den 200. Geburtstag von Karl Marx gefeiert. »Das coole Image von Berlin, das junge Menschen anzieht, wird zerstört«, befürchtet Weiser. »Davon ist in zehn Jahren nichts mehr übrig. Die Autobahn wäre der Sargnagel.«

Nicht von ungefähr rief die Clubcommission auf, sich an der Aktion auf dem Markgrafendamm zu beteiligen. »Wir haben große Sorgen um die Zukunft der Klubkultur«, sagt Sprecher Lutz Leichsenring. »Am Beispiel der A100 zeigt sich, wie wichtig die Anerkennung von Klubs als Kulturstätten ist. Es ist Zeit, sich ernsthaft mit der Verkehrswende und dem Stellenwert kultureller Räume in urbanen Gebieten zu befassen.«

»A100 wegbassen!«, so lautet das Motto. Das bezieht sich auf die wummernden Bässe elektronischer Musik. Aber auch andere Stilrichtungen kommen zum Zug. So singt der Chor »Resonanz«, der regelmäßig mit politischen Liedern bei Demonstrationen auftritt, das von Bert Brecht gedichtete und von Hanns Eisler vertonte »Solidaritätslied«. Es ist älter als die auch nicht mehr jungen Chormitglieder, zu denen die mittlerweile 69-jährige Doro Zinke gehört. Sie war früher Landesbezirksvorsitzende des Gewerkschaftsdachverbands DGB.

Das junge Publikum ist begeistert und fordert eine Zugabe. Die gibt der Chor dann auch mit einem 3000 Jahre alten Kanon aus dem antiken Sumer, der zeigt, dass Menschen schon damals erkannten, wie sinnlos letzten Endes Kriege sind: »Du gehst und trägst das Land des Feindes fort. Der Feind kommt und holt dein Land fort. Du gehst, er kommt.«

Anschließend gibt es ganz andere, harte Musik auf dieser Bühne. Der Gitarrist headbangt – er schwingt seinen Kopf energisch auf und nieder, sodass seine langen Haare wild durch die Luft fliegen. Aber bevor es so weit ist, muss seine Band erst einmal aufbauen.

Christoph Göbel überbrückt die Zeit mit einer kabarettreifen Nummer. »Ich habe eine Powerpoint-Präsentation mit kleinem Text ausgedruckt. Die arbeiten wir jetzt durch, und danach gibt es eine Klassenarbeit«, spielt Göbel einen Lehrer. Doch bei allem Humor geht es ihm um eine sehr ernste Sache: Das Haus in der Wartenbergstraße 22, in dem er lebe, solle für die A100 »weggesprengt« werden. Bedroht sei es auch durch den Bezirk Lichtenberg, der eine Fehlnutzung des Gebäudes unterstelle, das angeblich nur für Gewerbe gedacht und geeignet sei. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gegen Verdrängung engagiert sich Katalin Gennburg von der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Am Samstag auf dem Markgrafendamm darf Gennburg nicht fehlen. »Ich fordere gemeinsam mit meiner Partei den Rückbau der A100 und die Errichtung von 10 000 Wohnungen auf dem Abschnitt zwischen Neukölln und Treptow«, sagt die Politikerin. »Wir fordern Wohnraum statt Autostau!« Der Auto-Kapitalismus zerstöre Umwelt und Städte. Dazu passt der AC/DC-Song »Highway to hell« (Autobahn zur Hölle). Er wird am Samstag mehrfach zitiert.

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