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- »Birkenau«-Zyklus
Darstellbarkeit der Shoah: Die Wahrheit ist konkret
In der Berliner St.-Matthäus-Kirche wurde über Gerhard Richters »Birkenau«-Zyklus und Michael Müllers künstlerische Kommentierung desselben diskutiert. Im Mittelpunkt die Frage: Wie lässt sich die Shoah darstellen?
Es war schon ein merkwürdiger Zufall. Ende März eröffnete die Gerhard-Richter-Dauerausstellung inklusive des »Birkenau«-Zyklus in der Berliner Neuen Nationalgalerie, nur wenige Wochen später eine Schau in der St.-Matthäus-Kirche gleich nebenan, die Gemälde zeigte, mit denen der Künstler Michael Müller Richters Werkreihe kritisch kommentiert. Davon, dass es zu dieser Zusammenführung kommen sollte, erfuhren Müller und wohl auch Richter erst im Vorbereitungsprozess.
Was ist der »Birkenau«-Zyklus? Es handelt sich dabei um vier große quadratische Leinwände, bedeckt mit waagerecht und senkrecht gezogenen semitransparent wirkenden bzw. immer wieder durchbrochenen und teilweise vermischten Farbbahnen in Grün, Rot, Schwarz und Weiß. Ihnen gegenüber sind im Museum grau getönte Spiegel angebracht, in denen die Besucher sich selbst sowie die Gemälde hinter sich erblicken können. Das klingt erst einmal ziemlich abstrakt – ist es auch. Doch zum Kunstwerk gehören auch die vier kleinen Fotografien, die neben den großen Leinwänden hängen. Sie zeigen, undeutlich, Szenen aus Auschwitz-Birkenau, als das Lager noch in Betrieb war.
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Auf zwei von diesen Fotos sind am Boden viele brennende Leichen zu sehen sowie daneben Mitglieder des »Sonderkommandos« von Auschwitz-Birkenau, also ein paar jener jüdischen Häftlinge, die – selbst todgeweiht – ihre Mitgefangenen in die Gaskammern führen und danach in Massengräbern verscharren mussten. Es sind die einzigen vier erhaltenen Fotografien aus Auschwitz-Birkenau vor der Befreiung des Lagers, aller Wahrscheinlich nach geknipst von Alberto Errera, einem griechischen Häftling und Mitglied des »Sonderkommandos«, der 1944 während eines Fluchtversuchs ermordet worden sein soll.
Richter war über das 2008 in deutscher Übersetzung erschienene Buch »Bilder trotz allem« des französischen Kunstwissenschaftlers Georges Didi-Huberman wieder auf die ihm schon zuvor bekannten Fotografien aufmerksam geworden. In seiner Schrift plädiert Didi-Huberman dafür, sich in Bezug auf die Shoah nicht auf das Undarstellbare zu berufen – also darauf, dass man das Geschehen sowieso nicht in Worte oder Bilder fassen könne –, sondern die erhaltenen Fotografien, die etwas darüber mitteilen können, zu befragen und gleichzeitig als Fragmente zu begreifen, die natürlich nicht alles, was die Shoah ausmache, in sich vereinen könnten.
Richter griff dann zu einer für ihn bewährten Methode: Er, der das Spannungsverhältnis von Fotografie und Malerei künstlerisch immer wieder neu ausgelotet hat, fertigte anhand der Fotografien großformatige Malereien an, das heißt, er übertrug die jeweiligen Abbildungen auf vier Leinwände. Wegen des zum Teil eher schattenhaften Charakters der Aufnahmen musste Richter sie wohl nicht sehr verfremden, um typische verschwommene Richter-Gemälde entstehen zu lassen.
Doch wie diese Gemälde aussahen, wissen wir nicht. Denn Richter hat sie wieder übermalt. Seine Zweifel nahmen überhand: Darf man solche Szenen, die unmessbares Leid und Barbarei schlechthin repräsentieren, ästhetisieren? Welche Motive taugen zu einem Gemälde? Was soll und darf betrachtet werden?
Richter entscheidet, dass die Szenen aus Birkenau unmalbar sind; mit einer Rakel bedeckt er die Gemälde schichtweise erneut mit den verschiedenen Farben. Teilweise kratzt er die Farbschichten nacheinander wieder ab. Er bearbeitet die Leinwände so lange, bis sie nach abstrakter Moderne aussehen. Das Ganze nennt er bei der ersten Präsentation 2014 »Abstrakte Bilder«, ab 2015 dann »Birkenau«.
Auschwitz als Abstraktum – ein gelungenes Kunstwerk? So sieht es zumindest das deutsche und internationale Kultur- und Politik-Establishment – nicht umsonst hat es eine Reproduktion des »Birkenau«-Zyklus, ein Direktdruck auf Aluminium, bis in die Eingangshalle des Reichstags geschafft; eine fotografische Reproduktion soll in einem eigens dafür gebauten Ausstellungsgebäude in Polen unweit des ehemaligen Vernichtungslagers präsentiert werden.
Anders sieht es Michael Müller, dessen eigener Werkzyklus, der bis zum Wochenende in der St.-Matthäus-Kirche ausgestellt war, sich auf den »Birkenau«-Zyklus bezieht. Es sind Gemälde, von denen einige denen von Richter auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich sehen: Auch hier sind Rot, Grün, Weiß und Schwarz miteinander verspachtelt, sodass sich abstrakte Bildflächen ergeben (die allerdings im Unterschied zu den Originalen durch schmale Linien gevierteilt sind – mit dieser Unterteilung hat auch Richter seine Reproduktionen gekennzeichnet).
Dazwischen hingen allerdings genau die Motive in Öl, die Richter auf seinen Leinwänden wieder unkenntlich gemacht hat: die fotografisch aufgenommenen Szenen aus Auschwitz-Birkenau. Offenbar sind diese Bilder also doch malbar – zumindest in technischer Hinsicht sollte daran auch nie Zweifel bestanden haben. Aber darf man das? »Er kann es nicht. Ich kann es«, sagte Müller am vergangenen Freitag dazu – unter anderem. Er hat sich eingehend mit der Frage der Darstellbarkeit auseinandergesetzt und sieht keinen Grund, sich dem Verdikt von Richter anzuschließen.
Anlass für die Äußerung war ein Symposium, zu dem die St.-Matthäus-Stiftung in Kooperation mit dem Bard College Berlin und der Evangelischen Akademie Berlin verschiedene Wissenschaftler und eben auch den Künstler selbst eingeladen hatte. Aufwühlend und tief berührend erinnerte zu Anfang der israelische Historiker Gideon Greif an die Häftlinge des »Sonderkommandos« von Auschwitz-Birkenau. Er las aus dem Buch »The Scrolls of Auschwitz« (Die Schriftrollen von Auschwitz), das geschriebene Dokumente von Mitgliedern des »Sonderkommandos« enthält. Noch bis ins neue Jahrtausend hinein habe sich, so Greif, bei vielen die Vorstellung gehalten, dass es sich bei jenen Häftlingen um Verräter gehandelt habe – schließlich wurden sie von der SS besser behandelt als ihre Mitgefangenen, erhielten mehr zu essen, konnten dem Tod noch für eine Weile entgehen. Es habe allerdings, so betonte Greif, keinen einzigen Verräter unter ihnen gegeben.
Im Anschluss an Greifs Vortrag wurde in verschiedenen Formaten erörtert, wie sich künstlerisch auf die Shoah zugreifen lässt – und wo einem solchen Zugriff Grenzen gesetzt sind. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hielt dazu an, die Zeugenschaft der Fotografie mit Vorsicht zu betrachten; die Religionsphilosophin Almut Shulamith Bruckstein führte in einer »Lecture Performance« Textfragmente von Didi-Huberman, Richter, Walter Benjamin, Paul Celan, Jacques Derrida und vielen anderen Künstlern, Schriftstellern und Philosophen zusammen; der Kunsthistoriker Hubertus von Amelunxen sprach zum Verhältnis von Original und Reproduktion in der Kunst.
Dass Müllers Vorgehen bei von Amelunxen auf deutliche Abwehr stößt, zeigte sich allerdings erst später in der Podiumsdiskussion. Er sehe in den Gemälden von Müller keine Kunst, sondern lediglich ein (gescheitertes) Experiment – ganz im Gegensatz zum Werkzyklus von Richter. Eine etwas apodiktisch wirkende Aussage, weil von Amelunxen sie trotz allerlei aufschlussreicher Einlassungen zur Kopie nicht klar begründete.
Eine gleichsam entgegengesetzte Position vertritt der Kunsthistoriker Lukas Töpfer, der die Ausstellung kuratiert hat. Zwar spricht er Gerhard Richters Gemälden nicht ihren Status als Kunstwerke ab, hält sie jedoch für misslungen. Töpfer fragt: Wenn die Fotografien doch zum Zeigen bestimmt worden seien (sie sollten die Welt auf die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten aufmerksam machen) – warum sie dann überdecken? Richter müsse sich hier an seinem eigenen Anspruch, den Bildern gerecht zu werden, messen lassen. Im Anschluss an Didi-Huberman warnt Töpfer davor, die Shoah zu einem vagen Schicksalhaften, vielleicht gar Natürlichen zu stilisieren – Letzteres tat Didi-Huberman in seinem Versuch der Annäherung an den »Birkenau«-Zyklus ironischerweise selbst, als er schrieb, dessen abgekratzte Farbschichten erinnerten ihn an eine Landschaft.
Keine Form könne alles umfassen, konstatiert Töpfer – doch sollten wir deshalb auf jegliche Auseinandersetzung mit dem Konkreten verzichten, im Sinne einer Unmöglichkeit der umfänglichen Darstellung alles in eine abstrakte, melancholische Grundstimmung überführen? Ein solches Vorgehen laufe Gefahr, einer mythologischen Überhöhung der Shoah Vorschub zu leisten.
Töpfers Argumentation überzeugt – auch weil sie Zweifeln Raum gibt, der Kunsthistoriker die eigene Position immer wieder hinterfragt und ausdifferenziert. Unbedingt lesenswert ist sein Essay im gemeinsam mit Michael Müller herausgegebenen Katalog zur Ausstellung, in dem er die Problematik weiter ausführt.
Die Bilder von Michael Müller in der St.-Matthäus-Kirche werden nun abgehängt; die von Richter sind in der Neuen Nationalgalerie bis 2026 zu sehen, danach voraussichtlich im Museum des 20. Jahrhunderts, das gerade direkt nebenan gebaut wird. Eine Auseinandersetzung mit ihnen ist also weiter erforderlich. Das gilt nicht zuletzt auch, weil unser Verhältnis zur Shoah sich ständig wandelt. Bald wird es überhaupt keine Augenzeugen mehr geben – was heißt das für den (künstlerischen) Umgang mit fotografischen Dokumenten? Zugleich mehren sich derzeit Stimmen in der Wissenschaft – allen voran der australische Historiker A. Dirk Moses –, die die historische Singularität der Shoah infrage stellen, sie mit anderen Genoziden und Kolonialverbrechen vergleichen. Sicher würde es auch in dieser Debatte, analog zur Frage der Darstellbarkeit, helfen, beim Konkreten zu bleiben – und damit bei der Differenz.
Michael Müller, Lukas Töpfer: Am Abgrund der Bilder – »Birkenau«. Deutscher Kunstverlag/De Gruyter, 105 S., geb., 32 €.
Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. A. d. Franz. v. Peter Geimer. Wilhelm-Fink-Verlag, 260 S., geb., 29,90 €.
Ausstellung: »Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin«, bis 2026, Neue Nationalgalerie, Berlin.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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