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- Mehr Zeit, bitte!
Keine Zeit – wo ist die Rettung?
Ein Comic über Zeitnot, Zumutungen und Fantasie: Lisa Frühbeis' Graphic Novel »Der Zeitraum«
Eine Frau steigt in eine Öffnung, die wie ein gequetschter magentafarbener Donut in der schwarz-weißen Landschaft schwebt. Sie streckt eine Hand hindurch, den Arm, den Oberkörper. Plötzlich kommt Farbe ins Bild. Alles verwandelt sich. Eine vogelartige Frau entsteigt dem Tor in eine farbige andere Welt. Hier sind die Bäume grün-gelb-rot-orange getupfte Aquarelle, die Äste Linien und tanzende Noten, darüber Punkte, Planeten und nordlichternder Himmel. »Was ist das für ein Gefühl? Es breitet sich warm in meinem Körper aus. Ich vergesse alles«, denkt sie auf den vier Glücksbildern, die randlos ineinander gleiten und jene Doppelseite bilden, mit der sich die Geschichte verschiebt. Sie verlassen die reale Welt in Lisa Frühbeis' Graphic Novel »Der Zeitraum«.
Angefangen hat alles mit einem Projekt des Goethe-Instituts, in dem sich jeweils zwei deutsche und südkoreanische Comic-Künstlerinnen während der Corona-Pandemie digital austauschten. Die 1987 in München geborene Comic-Künstlerin Lisa Frühbeis war eine von ihnen. Ende Mai 2023 erzählte sie beim Berliner »Salon der grafischen Literatur« von dieser Zeit und zeigte frühe Zeichnungen der jungen Frau, die im Mittelpunkt ihrer neuen Geschichte steht. Während sie beim Salon über ihre Arbeitsweise in all ihrer beeindruckenden Strukturiertheit (Excel-Tabellen mit Zeitplänen, die sie über Wochen minutiös befolgte) berichtete, gab Frühbeis dem RBB kürzlich ein Interview über ihren inhaltlichen Anspruch. Es sei ihr um ein Thema gegangen, das sich zu Pandemiezeiten herauskristallisiert habe: die Zeit. Manche hätten sie damals im Überfluss gehabt, andere noch weniger als sonst. Letztere seien oft Mütter von kleinen Kindern und mit der Care-Arbeit überfordert gewesen, beobachtete Frühbeis in ihrem Umfeld.
Das Thema packte sie und mit einer zusätzlichen Erfahrung im Gepäck – einem Urlaub mit 13 Personen in einer Tiny-Haus-Siedlung auf den Lofoten – entwickelte sie die Story: Eine Komponistin gerät nach einer Trennung in finanzielle Schwierigkeiten und zieht sich mit ihren beiden Kindern auf eine Insel zurück, in ein Tiny-Haus ihres netten Großonkels. Dort schläft sie auf zusammengeschobenen Sesseln (die Kinder nutzen den einzigen Schlafraum) und muss innerhalb von sieben Tagen eine Komposition erschaffen, um ein rettendes Stipendium zu erhalten. Ihr fällt nichts ein, die Tochter mault, der Sohn plumpst in den Pool oder wirft Konfetti umher, eine Möwe fliegt ins Zimmer und kackt alles zu – es ist eine Katastrophe! Über allem hängt das Damoklesschwert: Kunst oder Kinder? Und irgendwo in der grauschwarzen Landschaft leuchtet ein kleines violettes Etwas…
Frühbeis ließ sich von gestressten Müttern Geschichten erzählen, recherchierte in Facebook-Foren und verwendete eigene Kindheitserinnerungen, zum Beispiel wie sie einmal Konfetti im ganzen Haus verstreut hatte. Ihr »Zeitraum« ist ein glaubhafter Schwarz-Weiß-Alptraum einer Frau auf der Suche nach ihrem eigenen Zimmer (Virginia Woolf lässt schwesterlich grüßen). Bis der violette Donut auftaucht – das Portal in Form einer Riesenmöse –, durch den eine Neugeburt gelingt. Wie die Comic-Künstlerin aus den sparsam gezeichneten Figuren neue Wesen entspringen und die Farben phantasievoll explodieren lässt, ist genial. Selten gehen Geschichte und Zeichnungen eine dermaßen überzeugende Symbiose ein. Aus einer Gegenwartssituation transportiert uns die Künstlerin in eine magische Zwischenwelt. Archaisch anmutende Gestaltwandler besiedeln diesen »Zeitraum« und bringen das hellfarbene Glücksgefühl an den Rand des schwarzen Nichts. Eine Entscheidung wird gefordert, ein kolossales Opfer. Gibt es einen Ausweg für die Komponistin aus ihrem Dilemma?
Lisa Frühbeis: Der Zeitraum oder wie ich versuchte, das Monster in mir zu lieben. Carlsen-Verlag, 133 S., geb., 18 €.
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