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Was bringt eine Rückbesinnung auf Nation und das Nationale?

Auf die Nation beschränkte Politik stößt unweigerlich an Grenzen, die ihr die jeweilige Kapitalfraktion setzt

  • Peter Porsch
  • Lesedauer: 8 Min.
Der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko (hier eine Statue in Warschau) hob die ukrainische Sprache als dem Russischen gleichwertig hervor. Unterstützung bekam er seinerzeit auch von russischen Schriftstellern und Politikern.
Der ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko (hier eine Statue in Warschau) hob die ukrainische Sprache als dem Russischen gleichwertig hervor. Unterstützung bekam er seinerzeit auch von russischen Schriftstellern und Politikern.

Die AfD will die Europäische Union in einen lockeren Bund von Nationalstaaten verwandeln, in dem die gegenseitigen Beziehungen geregelt sind. Dieser Bund soll vornehmlich in der Ab- und Ausgrenzung von für Europa ethnisch und kulturell »Fremdem« koordiniert handeln. Aber auch in der deutschen Linken regen sich Absichten der Reduktion politischen Handelns in den Grenzen der Nationalstaaten.

Um die immer noch sprudelnden Quellen und zugleich die Unbrauchbarkeit eines auf die Nationalstaaten fokussierten Ansatzes politischen Handelns aufzudecken, muss man weiter ausholen und bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. In jenem Jahrhundert brodelte es in der Welt und vor allem in Europa. Die Aufklärung begann alles aus dem Mittelalter Überlieferte in Frage zu stellen.

Mit dem »neuen bürgerlichen Bewusstsein« merkten neue Schichten der Bevölkerungen nicht nur, dass die feudalen Produktionsweisen und Gesellschaftsverhältnisse überholt waren und andere, kapitalistische die Gesellschaftsstrukturen zu verändern begannen. Das »neue Bewusstsein« gedieh auch zu einem neuen Selbstbewusstsein. Die Staatsformen der Dynastien, die wenig Rücksicht auf ethnisch-kulturelle Zusammensetzung der sozialen Grundschichten legten, wurden in Frage gestellt. Das Bürgertum suchte große administrative, für Austausch und Kommunikation barrierefreie politische Einheiten und konnte sprachliche Zersplitterung nur als Hindernis für seine Ansprüche empfinden. Im kleinstaatlich zerlegten Deutschland (oder auch in Italien) waren regional- und lokalsprachliche Besonderheiten Realität und leben bis heute. In zentralistisch organisierten Staaten waren das verschiedene Sprachen unterdrückter und der unteren Volksschichten.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus und befördert durch aufgeklärtes Denken wuchs allerdings auch das Selbstbewusstsein der produzierenden sozialen Schicht. Emanzipation der eigenen Sprechweisen beziehungsweise Sprachen war für die sozialen Grundschichten ein wichtiges Instrument ihrer sozialen und kulturellen Gleichstellung. Dialekte und Regionalsprachen wurden zu Soziolekten. Die angebliche Strafe Gottes durch die babylonische Sprachverwirrung wurde zum positiven Merkmal sozialer Emanzipation im Gewand nationaler Entwicklung.

Wie ein Leibeigener der ukrainischen Sprache zur Durchsetzung verhalf

Das russische Zarenreich war wegen der ausgeprägten und stark zergliederten Vielsprachigkeit von solchen Bewegungen besonders stark betroffen. In der Ukraine war es der Leibeigene Taras Schewtschenko (1814-1861), der das Ukrainische als dem Russischen potenziell gleichwertig hervorhob, auch wenn er selbst noch oft das Russische verwendete, weil es durch den Gebrauch in Administration, Militär, Kunst und Kultur deutlich entwickelter und brauchbarer war als zunächst das Ukrainische. Es gab zwar seit 1595 eine ukrainische Grammatik und seit 1627 ein ukrainisches Wörterbuch, literarisches Schaffen in ukrainischer Sprache gab es aber vor dem 18. Jahrhundert kaum.

Genau das wollte Schewtschenko ändern. Er bekam dabei Unterstützung nicht nur aus der ukrainischen Sprachgemeinschaft, sondern auch von russischen Literaten und Politikern. Mit deren Unterstützung konnte er übrigens auch aus der Leibeigenschaft freigekauft werden. Sein Weg war jedoch nicht nur ein sprachpolitischer, sondern auch ein sprachpraktischer, vornehmlich in seinem literarischen Schaffen. Man nannte ihn den »ukrainischen Goethe«. Die Kiewer Universität trägt seinen Namen.

Ukrainisch und Russisch haben eine zum Teil enge gemeinsame, im mittelalterlichen Kirchenslawisch erkennbare Geschichte und daraus resultierende Überschneidungen. Ukrainisch, Russisch und Weißrussisch werden als ostslawische Sprachen zusammengefasst. Die Sprachgrenzen sind sowohl linguistisch wie auch siedlungsgeografisch und administrativ schwer zu ziehen. Ukrainisch wurde auch als »Kleinrussisch« vom »Großrussischen« unterschieden. In den ukrainischsprachigen Teilen der Habsburger Monarchie war für Ukrainisch die Benennung »Ruthenisch« üblich. In der Verschriftlichung mit dem kyrillischen Alphabet unterscheiden sich Ukrainisch und Russisch lediglich in drei Zeichen. Alles zusammen erleichterte es der sowjetischen Sprachpolitik, in der Ukraine das Russische als gesamtstaatliches Kommunikationsmittel im Sinne einer »zweiten Muttersprache« durchzusetzen.

Andererseits weiß man aber auch, dass gerade Sprecher*innen von sehr ähnlichen Sprachen oder Dialekten Unterschiede ihrer Idiome überhöhen. Je nach aktueller politischer Situation können die beiden Sprachen als zusammenführende oder trennende Merkmale von einer ukrainischen und russischen Nation betrachtet werden. Egal aber, welcher Richtung man anhängt, die daraus resultierenden möglichen Konflikte sollten eigentlich nur so lange von Bedeutung sein, als die Nation und das Nationale tatsächliche Relevanz für die weitere gesellschaftliche Entwicklung behalten – »tatsächliche« und nicht nur angenommene.

Wie aus Nationalbewusstsein Nationalismus wurde

Was bringt nun eine Rückbesinnung auf Nation und das Nationale? Letztendlich nur die Hegemonie imperialistischer Mächte gegenüber der Machtlosigkeit ausgebeuteter und fremdbestimmter Quasinationalstaaten. Insofern hat Olaf Scholz recht, wenn er unlängst bemerkte: »Russland zeigt allen, dass es imperiales Interesse hat.« Was ist aber mit all den anderen, die in diesem Krieg mitwirken? Haben EU, Nato und vor allem mit dieser die USA, Deutschland, Frankreich oder Großbritannien keine imperialen Interessen? Sie haben!

Die Herausbildung der Nationalstaaten war in Europa nach dem Ersten Weltkrieg auf einem Höhe- und auch Endpunkt angelangt. Es waren damit durchaus progressive Veränderungen verbunden. Die Herrschaft der Dynastien wurde begrenzt und aufgehoben durch das konstitutionelle Prinzip »Alle Macht geht vom Volke aus«. Zahlreiche demokratische Verfassungen wurden geschrieben, das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt. Völker behaupteten ihre politische, sprachliche, ökonomische, (alltags-)kulturelle und militärische Selbstbestimmtheit. Der Völkerbund bestätigte diese Entwicklung schon durch seinen Namen. Mit der Sowjetunion entstand ein neues Staatenbündnis.

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Unter kapitalistischen Bedingungen rührten sich jedoch gleichzeitig imperiale Bestrebungen der Siegermächte. Die Kolonialreiche blühten nochmal auf. Deutschland wurde niedergehalten und sann gleichzeitig auf Revanche. Nationen prallten mit ihren Interessen aufeinander, Nationalbewusstsein wurde zu Nationalismus, der Bedeutung und Ansprüche der eigenen Nation in internationaler Konkurrenz zerstörerisch überhöhte. Unterschiedliche Arten des Faschismus breiteten sich in den Nationalstaaten aus. Diese wurden zum Instrument der Durchsetzung verschiedener Kapitalinteressen. Die Tragödie des Zweiten Weltkrieges ging schließlich vom nationalsozialistischen Deutschland aus.

Das Ergebnis dieses Krieges hob zwar die Nationalstaaten nicht gleich auf, aber bald wurde man sich bewusst, dass sie mit ihren Einzelinteressen die paneuropäischen und globalen Interessen von Kapital, zumal in der entstehenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion und den ihr zugeordneten Staaten, behinderten. Die USA verfestigten ihren Einfluss mit dem Marschall-Plan. Die europäischen kapitalistischen Hauptmächte fanden sich schrittweise in einer Union zusammen, neben der kleinere Staaten und die Sonderinteressen Großbritanniens nur bestehen konnten, wenn man sich der Union mit ihren hegemonialen Großmachtstrukturen anschloss. Ein eigener lockerer Zusammenschluss kleinerer Staaten und des britischen Königreiches in einer Freihandelszone war nicht nachhaltig.

Die Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges seitens der Siegermächte getragen hatte und massiven Zerstörungen ausgesetzt war, musste sich in dieser Situation behaupten, was nur schwer möglich war. Der Grundgedanke eines Bundes gleichberechtigter sozialistischer Unionsrepubliken ging dabei zunehmend in einem planwirtschaftlichen Zentralismus verloren, der in administrativer Bewegungslosigkeit ständig an Attraktivität einbüßte. Die mit der Sowjetunion eigentlich verbündeten sozialistischen Staaten hatten kaum noch eigene Bewegungsmöglichkeiten. Aufbegehren wurde mit Gewalt beantwortet. Das System selbst und das Bündnis zerbrachen schließlich.

Das Ergebnis waren Nationalstaaten, die sich gegen die frühere Führungsmacht Russland wandten. Neuen Bündnissen mit Russland zog man die Integration in das von kapitalistischen Führungsmächten bestimmte Geflecht von Nato und EU vor. Die Behauptung, man verteidige damit die eigene nationale Unabhängigkeit, wird sich deshalb als Illusion erweisen. Statt sich für eine Seite in einer möglicherweise tödlichen Konfrontation zu entscheiden, wäre doch nur die Arbeit an einem neuen supranationalen solidarischen System demokratischer Selbstbestimmung mit lokalen und regionalen autonomen Regulationen zukunftsfähig. In diese Richtung sollten Debatten um eine Reform der Uno oder des europäischen Parlaments gehen. Die Rolle der Kommunalpolitik wäre danach neu auszurichten.

Das Proletariat hat kein Vaterland!

Es zeigte sich, dass Nationalstaaten letztendlich viel Unheil anrichten, sei es im Kampf um den eigenen Vorteil gegen Schwächere oder in der Abwehr imperialer Ansprüche. Progressive Bestrebungen von Nationalstaaten bleiben begrenzt auf das 18. und 19. Jahrhundert. Ihre späteren Bündnisse verfielen immer wieder den Herrschaftsansprüchen starker Partner. Der Nationalgedanke diente stets auch der Integration der Volksmassen in die Ziele der die Nation jeweils beherrschenden Klasse.

Politik für die ausgebeuteten Schichten ist deshalb, egal welcher Möglichkeiten sie sich bedient, international, ja supranational anzulegen. Auf die Nation beschränkt, stößt sie unweigerlich an die Grenzen, die ihr die von Kapital bestimmten Interessen der Nation setzen. Klassenkämpfer*innen werden so zu »Patriot*innen« der vom Kapital beherrschten Nationen – ob sie wollen oder nicht, ob sie es merken oder nicht. »Das Proletariat hat kein Vaterland!« Das ist nicht nur ein origineller Einfall von Marx und Engels, das ist kein linkes Bonmot. Es ist Ergebnis genauer Analyse, die sich schon mit Georg Büchners »Hessischem Landboten« andeutet und im »Kommunistischen Manifest« zu einer die Klassenauseinandersetzungen im Kapitalismus bestimmenden Maxime wird.

Kriege zwischen Nationen, egal aus welchem unmittelbaren Anlass, egal um welche Zielstellung, sind unter diesem Aspekt Kriege der Vergangenheit. Linke sollten alle Kriege ausdrücklich und kompromisslos verurteilen. Linke müssen natürlich vor allem ein schnelles Ende sinnlosen Blutvergießens fordern und befördern, weil es alle Möglichkeiten der Durchsetzung eigener Ziele zerstört.

Wir müssen Geschichte nach vorne denken, nicht rückwärts!

Prof. Peter Porsch, Jahrgang 1944, ist Germanist und Politiker. Er lehrte an der Universität Leipzig Sprachtheorie und Sprachsoziologie, beschäftigte sich auch mit Dialekten. Nach 1990 war er lange Zeit eine prägende Figur der PDS bzw. Linkspartei in Sachsen.

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