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Howard S. Becker: Was Menschen zusammen tun
Im August dieses Jahres verstarb der Soziologe Howard S. Becker. Ein Nachruf
Howard Saul Becker interessierten Dinge, die Leute gemeinsam machen: »People doing things together«. So heißt es in seinem Methodenbuch »Sociological Work« von 1970. Manche dieser Dinge sind nicht freundlich und befördern Menschen ins gesellschaftliche Abseits oder gar hinter Gitter – aber nicht immer auf die Weise, wie man denkt. Becker hatte einen ungewohnten Blick auf die Verhältnisse. Sein meistzitierter Satz lautet: »Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen.« Das Zitat stammt aus seinem bekanntesten Buch »Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance«, das 1963 erschien und wurde zum Schlüsselsatz des Etikettierungsansatzes (»Labeling Approach«) in Soziologie und Kriminologie.
Mit dem Etikettierungsansatz wurden in den 1960er und 70er Jahren die herkömmlichen Erklärungen von Devianz und Kriminalität auf den Kopf gestellt. Nicht mehr Tat und Täter standen fortan im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern der Prozess der Zuschreibung abweichenden und delinquenten Verhaltens. In der Forschung dieser »Kritische Kriminologie« genannten Richtung ging es weniger um Kriminalität als um Kriminalisierung. Das passte in die herrschaftskritische Stimmung dieser Jahre, inzwischen ist es um den Ansatz still geworden. Immerhin aber ist der Etikettierungsgedanke, wie Becker ihn formulierte, zum Teil der Lehrbuch-Kriminologie geworden.
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Frühstart und späte Karriere
Howard S. Becker wurde am 18. April 1928 in Chicago geboren. Schon mit 15 Jahren spielte er als Jazzpianist in Bars und Clubs sowie auf Tanzabenden, Hochzeiten und Betriebsfesten. Er war nicht allein wegen seines musikalischen Talents in so jungem Alter in der Live-Musiker-Szene unterwegs, sondern auch, weil viele erwachsene Jazzmusiker in den Zweiten Weltkrieg ziehen mussten. Aber auch schulisch war er ein Frühstarter und konnte einige Klassen überspringen.
Ebenfalls als Fünfzehnjähriger begann er ein Studium am College der Universität Chicago und legte 1946 das Bachelor-Examen ab. Daran schloss er ein Studium der Soziologie bei den Vertretern der berühmten »Chicagoer Schule« an. 1949 machte er das Master-Examen, 1951 wurde er zum Doktor promoviert. Beckers Masterarbeit war Ergebnis teilnehmender Beobachtung von Tanzmusikern, die damals noch als soziale Abweichler betrachtet wurden. Den Text übernahm er später in sein »Außenseiter«-Buch. Seine Doktorarbeit bestand aus der Auswertung eines Untersuchungsprojekts über Lehrer an staatlichen Schulen.
Noch bevor er den Doktortitel erworben hatte, heiratete Becker und wurde Vater einer Tochter. Die kleine Familie ernährte er mit seinen Honoraren als Jazz-Pianist. Nach Abschluss des Studiums wurde er für 14 Jahre »fahrender Forscher« und betrieb für verschiedene Hochschulen Feldforschungen. 1965 erhielt er eine Soziologie-Professur an der Northwestern University in Chicago. Ein Vierteljahrhundert später wechselte er an die nördliche Westküste, zur University of Washington in Seattle, wo er bis 1999 lehrte. 1995 erhielt er zudem einen Lehrauftrag an der School of Music in Seattle. Mit seiner zweiten Frau zog Becker nach Ende seiner Lehrtätigkeit im Bundesstaat Washington nach San Francisco und lehrte noch für ein Jahr als Gastprofessor an der University of California, Santa Barbara.
Etwa drei Monate im Jahr verbrachte Becker in Paris. In Frankreich genoss er, insbesondere wegen seiner Beiträge zur Kunstsoziologie, hohes Ansehen, galt als Alternative zu Pierre Bourdieu und erhielt dort vier seiner insgesamt sechs Ehrendoktortitel. In Deutschland hingegen wurde er eher als Devianz- und Kriminalsoziologe bekannt. In den USA erhielt er den akademischen Ritterschlag, als er 1993 schließlich in die American Academy of Arts and Sciences aufgenommen wurde.
Soziologie der Devianz
Becker wurde zwar von der klassischen Chicagoer Soziologie geprägt, wird aber wegen seines deutlichen Bezuges zum »Symbolischen Interaktionismus« eher zu den Vertreter*innen einer zweiten Chicagoer Schule gezählt. Diese folgen der Grundannahme, dass die Bedeutung von sozialen Objekten, Beziehungen und Situationen durch Kommunikation hervorgebracht wird. Dementsprechend untersuchte er Gesellschaft als Produkt kollektiven Handelns – und das gilt für seine Devianzsoziologie wie für seine Kunstsoziologie.
In seinem devianzsoziologischen Klassiker »Outsiders« stellt er grundsätzliche Überlegungen zur Konstruktion von gesellschaftlichen Außenseiter*innen an und prägt Begriffe wie »Devianzkarriere« und »Moralunternehmer«. Am Beispiel von Marihuana-Konsument*innen und Tanzmusikern beschreibt er im Outsider-Buch die Prozesse, die zu abweichendem Verhalten führen, wozu eben auch kriminelles Verhalten zählt. Becker theoretisiert dies so: Abweichendes Verhalten ist stets Produkt der Transaktion zwischen einer gesellschaftlichen Gruppe und von dieser Gruppe als Regelverletzer*innen etikettierten Personen. Das verläuft nicht objektiv und automatisch. Nicht jede Person, die gegen eine Regel verstößt, wird als Regelverletzer*in definiert, wohingegen manche, die keine Regel verletzt hat, so behandelt wird, als hätte sie es getan. Die Zuschreibung ist nämlich nicht allein vom Handeln abhängig, sondern auch vom Ansehen der beurteilten Person. So werden etwa Angehörige der Mittelschicht weniger als »Normverletzer*innen« gelabelt als solche der »Unterschicht«, auch wenn es zwischen beiden Personen in der beurteilten Situation keinen Verhaltensunterschied gibt.
Im Zusammenhang mit seinen Studien über gesellschaftlich Ausgegrenzte hielt Becker 1966 einen Vortrag als neugewählter Präsident der nordamerikanischen »Society for the Study of Social Problems«, in dem er der Frage nachging: »Auf wessen Seite stehen wir?« Seine Rede war äußerst sensibel gegenüber Machtstrukturen: Es sei stets kritisch im Auge zu behalten, wer das Sagen habe und mit welchem Recht.
Im Gegensatz zum bis dahin üblichen Vorgehen in den Sozialwissenschaften fragt Becker nicht nach dem »warum« für abweichendes Verhalten, sondern nach dem »wie«. So beschreibt er die Stufen der »Lernkarriere«, die zukünftige Marihuana-Konsument*innen per Nachahmung durchlaufen und betont, diese Entwicklung sei nicht – wie in älteren Suchttheorien postuliert – zwangsläufig. Vielmehr könne jede*r jederzeit aus dem Prozess aussteigen. Damit lieferte Becker einen bedeutenden Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Suchtforschung, ebenso wie mit seinem Konzept der »Moralunternehmer*innen«, welches gewissermaßen die aktive Seite des Etikettierungsprozesses beschreibt. Diese Personen sind laut Becker diejenigen, die sich darum bemühen, dass eine von ihnen gewünschte Regel Gesetzesrang erhält. Die amerikanischen Abstinenzler-Vereinigungen, die die Prohibition in den USA durchsetzten, sind möglicherweise das bekannteste Beispiel dafür.
Fotograf und Kunstsoziologe
Beckers Buch »Outsiders« wurde in neun Sprachen übersetzt. Die erste deutschsprachige Ausgabe »Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens« erschien 1973, die zweite 2014. Zu dem Zeitpunkt hatte sich Becker längst von Devianz- und Kriminalitätssoziologie verabschiedet, sich für Fotografie begeistert und der Kunstsoziologie zugewandt. In seiner soziologischen Kunstbetrachtung ging Becker ebenso – auch hier im Sinne des Symbolischen Interaktionismus – den Dingen nach, die Menschen zusammen tun. Kunst wird hier nicht als Kreation eine*r einzelnen Schöpfer*in betrachtet, sondern als Ergebnis kollektiven oder kooperativen Handelns. Kunstwelten sind Netzwerke von Leuten, die interagieren, um Kunstwerke zu produzieren und sie dem Publikum zu präsentieren. Beckers kunstsoziologisches Hauptwerk »Art Worlds« erschien 1982, eine deutsche Übersetzung (»Kunstwelten«) kam erst 2017 heraus.
Als Wissenschaftler war Becker zweierlei: Erneuerer und Großer seiner Zunft, aber als erklärter Nonkonformist doch Außenseiter unter den Sozialforschenden. Im letzten seiner Bücher, die ins Deutsche übersetzt wurden, »Soziologische Tricks. Wie wir über Forschung nachdenken können« (2021), betonte er einmal mehr, dass soziale und wissenschaftliche Konventionen ein großer Feind soziologischen Denkens seien.
»Howie«, wie er für Freund*innen und Bewunderer hieß und wie er sich auf seiner Homepage selbst nannte, starb am 16. August 2023 im Alter von 95 Jahren in San Francisco.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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