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»Lebensschutz«: Übergriffig statt harmlos

Abtreibungsgegner mobilisieren zum »Marsch für das Leben«, gegen Selbstbestimmung und Fortschritt

  • Kirsten Achtelik
  • Lesedauer: 5 Min.
Letztes Jahr in Berlin: Die CDU-Politikerin Sylvia Pantel (Mitte) am Fronttransparent des »Marsch für das Leben«, rechts die Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht, Alexandra Linder.
Letztes Jahr in Berlin: Die CDU-Politikerin Sylvia Pantel (Mitte) am Fronttransparent des »Marsch für das Leben«, rechts die Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht, Alexandra Linder.

Lange war die Streichung des Abtreibungsparagraphen 218 nicht mehr so nah: Im März hat die Bundesregierung eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung aus Wissenschaftler*innen eingesetzt, die prüfen soll, wie Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafgesetzbuches geregelt werden können. Während Feminist*innen deren Ergebnissen vorsichtig optimistisch entgegensehen, fühlen sich Konservative, christliche Fundamentalist*innen und Abtreibungsgegner*innen in der Defensive.

Dieser laut Alexandra Linder »schlechtesten Bundesregierung seit Bestehen der Bundesrepublik« will die »Lebensschutz«-Bewegung an diesem Samstag etwas entgegensetzen: Der »Marsch für das Leben« soll unter dem Motto »Einzigartig. Leben wagen« diesmal nicht nur durch Berlin, sondern erstmals auch durch Köln ziehen. Veranstalter ist seit 2002 der Bundesverband Lebensrecht (BVL), dessen Vorsitzende Linder ist. Der BVL ist eine Dachorganisation aus 15 meist christlichen »Lebensschutz«-Organisationen, die sich nach außen gemäßigt und in Sorge um das Wohl der Schwächsten in der Gesellschaft gibt. Auf seiner Agenda steht allerdings eine Gesellschaft, die nach christlichen Werten und Moralvorstellungen funktioniert. Wegen seiner rechtskonservativen Ausrichtung und seiner Offenheit in die extreme Rechte steht der Marsch seit Jahren in der Kritik.

Vor allem in den Kirchen und der CDU gibt es immer wieder Auseinandersetzungen um Grußworte, Teilnahme, Redebeiträge, oder, wie aktuell in der Kölner CDU, um einen Eintrag in den online-Terminkalender der Partei.

Auf Nachfrage lokaler Medien erklärte der Kölner CDU-Parteichef Karl Mandl, er unterstütze die Anliegen der Demonstration und kündigte an, möglicherweise auch teilzunehmen. Eine Gruppe von 41 teils prominenten Mitgliedern der Kölner CDU hat den Parteichef daraufhin in einem internen Schreiben deutlich kritisiert. Der BVL falle »durch seine aggressive Vorgehensweise in ethischen Fragen« auf, heißt es in dem Brief. Die CDU Köln erwarte »von unserem Vorsitzenden klare Distanz«. Zu Redaktionsschluss stand der »Marsch für das Leben« weiter als Termin auf der Seite der Kölner CDU, allerdings ohne Uhrzeit und Ortsangabe.

Gegen den Marsch mobilisiert das Bündnis ProChoiceKöln, das aus verschieden antifaschistischen, antirassistischen und feministischen Gruppen besteht. Das Bündnis ruft dazu auf, den Marsch »nerven, stören, verhindern!« Luzie Stift vom Bündnis sagt dem »nd«, sie würden dafür sorgen, dass die Abtreibungsgegner*innen »zum ersten und auch zum einzigen Mal hier in Köln auflaufen!«

In Berlin liefen im vergangenen Jahr sechs bekannte AfD-Mitglieder mit, Reden halten oder das Fronttransparent tragen dürfen sie aber nicht. Auch das Grußwort des AfD-Europaabgeordneten Joachim Kuhs veröffentlichte der BVL nicht auf seiner Webseite. Das Wording unterscheidet sich allerdings nicht von den anderen Grußworten oder BVL-Verlautbarungen.

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete der CDU und jetzige Geschäftsführerin der Stiftung für Familienwerte, Sylvia Pantel, stimmte in ihrer Rede bei der Auftaktkundgebung des letztjährigen Marsches zwar zu, dass »die Frau ein Recht auf ihren Körper, auf Selbstbestimmung« hätte. Aber, so fuhr sie fort, »dieses Recht hört eben auf, wenn ein anderes Leben in ihr wächst«. Diese Formulierung legt eine weitere Einschränkung der Abtreibungsgesetze nahe, als sie der Paragraf 218 ohnehin enthält.

Vorsichtiger formuliert es Berlins katholischer Erzbischof Heiner Koch, im Interview mit katholisch.de. Koch, der auch bereits an der Demonstration teilgenommen hat, postuliert, dass er »die zentralen Inhalte dieser Partei und ihrer führenden Vertreter ablehne«, gemeint ist die AfD. Welche zentralen Inhalte das sind, sagt er aber nicht, und wird auch nicht danach gefragt. Koch ruft dazu auf, »als Christ strategisch zu denken«, das heißt für ihn, »dass man schmerzhafte Kompromisse eingehen muss« und sich »unter den gegebenen Umständen für eine Beibehaltung des Paragrafen« 218 einzusetzen, obwohl er sich damit »nach wie vor schwertue«. Koch ist wie Pantel offensichtlich für eine Verschärfung der Reglung, sieht aber dafür keine politische Möglichkeit.

Die Vorsitzende des BVL, erwartet von den zwei Standorten eine deutliche Zunahme der Teilnehmenden, wie sie der evangelikalen Zeitung idea sagte: 2000 in Köln, 5000 in Berlin. Das würde den Trend der letzten Jahre umkehren, der eine deutliche Abnahme verzeichnet. Der BVL behauptete, im vergangenen Jahr hätten 4000 Menschen teilgenommen, eine leichte Abnahme von angegebenen 4500 2021. Rechercheure vom Berliner apabiz, die den Marsch seit Jahren begleiten und die Teilnehmer*innen zählen, geben an, im vergangenen Jahr hätten weniger als 3000 Personen teilgenommen, nach etwa 2500 im Jahr davor.

Ella Nowak vom what-the-fuck-Bündnis rechnet dagegen damit, dass die Zahlen der Teilnehmer*innen etwa gleich bleiben, für den Berliner Marsch seien Busse aus München und Baden-Württemberg angekündigt. Tendenziell nimmt die Beteiligung ab, sagt Nowak, und auch die Bedeutung des Marsches für die Szene schwinde. Berlin bleibe wohl das Hauptevent, auch wenn die »Lebensschutz«-Bewegung möglicherweise hoffe, mit einer Regionalisierung Kapazitäten zu sparen und in anderen Städten auf weniger Widerstand zu stoßen. Das queerfeministische Bündnis rufe auch in diesem Jahr zu Protesten und Störaktionen auf: »Es sind mehrere Kundgebungen angemeldet, die man als Anlaufpunkte nutzen kann. Über kreative Aktionen von Aktivist*innen freuen wir uns«, sagt Nowak.

Im Vorfeld hat das Bündnis eine Recherche zu der transfeindlichen Plattform »Kein Mädchen« veröffentlicht. Darin wird deutlich, wie manipulativ vermeintliche Berater vorgehen, um betroffene Jugendliche und deren Eltern davon zu überzeugen, dass sie nicht trans seien. Wie bei angeblichen Beratungsstellen für ungewollt Schwangere gäben rechte Akteur*innen auch hier vor, für den Schutz von Kindern und Frauen einzutreten, dabei wollten sie vor allem ihre eigene Agenda durchsetzen, erklärt Nowak. »Transfeindlichkeit und Antifeminismus verbinden als menschenverachtende Ideologien Rechte, vermeintliche Feministinnen, fundamentalistische Christinnen und die CDU. Dem stellen wir uns entgegen, nicht nur am Samstag in Berlin.«

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