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  • Ausstellung »Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR«

»Antisemitismus ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen«

Das Jüdische Museum Berlin widmet sich in einer Ausstellung erstmals der Geschichte ostdeutscher Jüdinnen und Juden. Der Künstler Leon Kahane über seine Installation »vom ich zum wir«, realsozialistische Utopien und Antisemitismus in der Kunst

  • Interview: Jonathan Guggenberger
  • Lesedauer: 5 Min.
Leon Kahane bringt in seiner Installation ost- und westdeutsche Erinnerungskultur zusammen.
Leon Kahane bringt in seiner Installation ost- und westdeutsche Erinnerungskultur zusammen.

Leon Kahane, Sie haben für die Ausstellung »Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR« eine raumgreifende Installation mit dem Titel »vom ich zum wir« geschaffen. Dies ist auch der Titel eines Wandbilds Ihrer Großmutter, der jüdischen Künstlerin und Widerstandskämpferin Doris Kahane – es steht im Zentrum Ihrer Arbeit. Gleichzeitig beschreibt der Titel einen Prozess. Wie drückt sich dieser in Ihrer Installation aus?

Meine Arbeit ist um einen sogenannten Void herum installiert, also um einen der Leerräume, die das Gebäude durch alle Etagen vertikal durchziehen. Daniel Libeskind, der das Gebäude entworfen hat, wollte damit die durch den Holocaust entstandene Leere beziehungsweise den Verlust architektonisch zum Ausdruck bringen. In meiner Arbeit wird der Void gestützt von Holzträgern. Man hat das Gefühl, auf der Rückseite eines Messestands zu sein. Zwischen diesen Trägern klemmt eine Reproduktion des Mosaiks, das meine Großmutter für die dritte Weltlandwirtschaftsmesse 1960 in Delhi angefertigt hat – es berührt den Void direkt. Die Träger sollen diesem fragilen Gerüst der Aufarbeitung und Erinnerungskultur symbolisch Halt geben.

Interview
leon kahane
foto: privat

Leon Kahane, 1985 in Berlin geboren, setzt sich in seinen Installationen, Videoarbeiten und Fotografien mit Themen wie Identität, Migration und dem Verhältnis von Mehr- und Minderheiten in einer globalisierten Welt auseinander. Dabei stehen oftmals auch Bezüge zur eigenen Biografie im Zentrum. Er lebt und arbeitet in Berlin und Tel Aviv.

Der westdeutschen oder der ostdeutschen Aufarbeitung und Erinnerungskultur?

Beiden. Wir sind ja im ehemaligen West-Berlin, das Jüdische Museum ist eine westdeutsche Institution. Für mich steht der Void von Libeskind für diese westdeutsche Aufarbeitungsgeschichte. Das Wandbild meiner Großmutter aber war eine Auftragsarbeit für den DDR-Pavillon. In der Ausstellung ist das Wandbild hochskaliert von einem Foto, das im »Neuen Deutschland« abgedruckt war und so in der DDR zirkulierte. Der Titel »Vom Ich Zum Wir« [sic!] und die Tatsache, dass meine Großmutter als Holocaust-Überlebende es geschaffen hatte, sollte eine Art Lehre aus der Geschichte vermitteln, ein breites Erinnern und Zusammenkommen in der Totalität des »Wir«. Dieses »Wir« war die DDR.

Stand die Erfahrung Ihrer Großmutter diesem »Wir« entgegen?

Meine Großeltern haben an eine sozialistische Utopie in der DDR geglaubt. Aber sie sind eben damals auch in eine NS-Nachfolgegesellschaft eingetreten, in der behauptet wurde, man habe den Faschismus besiegt, man sei kein Tätervolk. Jüdischen Menschen wie meinen Großeltern wurde die Rolle zugeschrieben, diese Erzählung biografisch zu legitimieren. Da hieß es dann: »Wir sind keine Nazis, wir sind Antifaschisten. Wir geben doch Staatsaufträge an Doris Kahane.« Die einen kamen aus dem Widerstand, aus den Lagern, die anderen aus Nazi-Familien. Und dann sollten alle zusammen Antifaschisten sein. Das konnte nicht funktionieren – und hat es ja letztlich auch nicht.

Dieser Zwang zur Legitimierung zeigt sich auch in Exponaten, die Teil Ihrer Installation sind.

Zum Beispiel in einem Porträt meiner Großmutter in einer DDR-Kinderzeitung. Unter der Überschrift »Immer wieder malt sie Kinder« wird ihre Verfolgung thematisiert, aber dann dafür verwendet, vor einem vermeintlichen Faschismus in der Gegenwart zu warnen. Die Faschisten sollten in dem Fall Israelis sein, die arabische Kinder töten würden. In der DDR musste die kollektive antifaschistische Erzählung mit Authentizitätsnarrativen angereichert werden, um anschlussfähig zu sein. Allerdings spielten die tatsächlichen Erfahrungen der verfolgten Jüdinnen und Juden, der KZ-Überlebenden und Widerstandskämpfer nur bedingt eine Rolle. Der Raum fürs Individuelle war geschlossen. Auch gab es einen Geschichtsrevisionismus in Bezug auf die NS-Ideologie, mit dessen Folgen wir bis heute zu kämpfen haben.

Inwiefern?

Ein Beispiel: Ich habe mal in einem Interview mit der »Taz« gesagt, dass der Nationalsozialismus in seiner ideologischen Selbstbehauptung antikapitalistisch war. Daraufhin habe ich einen kleinen Shitstorm bekommen. Viele Leute waren aufgebracht, weil sie sich selbst als antikapitalistisch definierten. Sie entgegneten mir, die Nazis hätten doch enteignet, also seien sie Kapitalisten gewesen. Und diese Erzählung gab es eben auch in der DDR: »Die Nazis waren Kapitalisten, wir sind Antikapitalisten, wir sind die Guten.« Die Nazis haben aber die Enteignung der Juden damit legitimiert, dass sie die Juden als Kapitalisten und sich selbst als Antikapitalisten beschrieben haben. Sie haben sich als gerecht und fortschrittlich empfunden. Natürlich waren sie nicht wirklich antikapitalistisch, es war vor allem eine ideologische Legitimationsbehauptung. Sie haben versucht, diesen Widerspruch über die Unterscheidung zwischen dem »raffenden« und dem »schaffenden« Kapital aufzulösen. 

Wie hängt ein solches Fortschrittsdenken mit Antisemitismus zusammen?

Ich beschreibe Antisemitismus in der Regel als Kulturtechnik, als Kommunikationsform. Der Antisemitismus hat historisch verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, bezog sich jedoch stets auf etwas Widerständiges. Antisemiten positionierten sich immer gegen das Establishment und gesellschaftliche Zwänge und für etwas vermeintlich Fortschrittliches. Der Antisemitismus als Kulturtechnik ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen – zur Not mit Gewalt. Die eigenen Konflikte und das eigene Böse werden externalisiert und auf Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel projiziert – wie im Antizionismus der DDR.

Ihre Arbeit hingegen dreht sich um Widersprüche. Sie thematisiert auch die Ohnmacht und die Verstrickungen Ihrer Großmutter. Wie begegnet man dem Drang nach Widerspruchsfreiheit heute?

Sich gegen Antisemitismus auszusprechen, bedeutet, sich für eine Welt der Konflikte auszusprechen. Das Paradies ist eine schöne Sache, Utopien sind es auch. Konflikte zu unterschlagen, bringt uns aber nicht weiter. Dazu kann man sich zum Beispiel das Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi anschauen, das letztes Jahr auf der Documenta für einen Skandal sorgte. Es wurde oft als »Wimmelbild« beschrieben, dabei handelt es sich eher um ein »Weltbild«. Zu sehen ist darauf eine konfliktfreie, gute Welt und dieser gegenübergestellt eine Welt, die diese Utopie zum Scheitern bringt. In dieser schlechten Welt gibt es den Juden, der hinter dem Teufel steht, als Urheber und Profiteur dieses Konflikts. Das ist das Motiv, das sich über Jahrhunderte eingeschrieben hat in Bildsprachen, in die Kunstproduktion und in die Köpfe.

Der Rundgang durch die Ausstellung mündet in dem von Ihnen gestalteten Raum. Was möchten Sie den Besuchern mitgeben?

Im Prinzip bringe ich einfach verschiedene Elemente zusammen, die von einem großen Widerspruch und von einem großen Missbrauch erzählen – und diese vielleicht auch nachempfinden lassen. Ich habe, so wie damals wohl auch viele Jüdinnen und Juden in der DDR, auf meine Familie bezogen sehr oft gehört: »Ihr seid doch total privilegiert.« Dem will ich mit meiner Arbeit widersprechen.

»Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR«, bis zum 14. Januar 2024, Jüdisches Museum Berlin

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