Gerechtigkeit für Henrietta Lacks

Eine unfreiwillige Gewebespende war Grundlage der ersten menschlichen Zelllinie und damit zahlreicher Forschungserfolge

  • Isabelle Bartram
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Zellen einer 1951 verstorbenen Afroamerikanerin haben die biomedizinische Forschung revolutioniert, Unternehmen reich gemacht und wissenschaftliche Karrieren begründet. Die Patientin und ihre Familie gingen dabei leer aus. Mehr als 70 Jahre später wirft eine erfolgreiche Klage von Hinterbliebenen Fragen über die Forschungspraxis mit menschlichen Proben auf.

Menschliche Zelllinien sind ein instrumentaler Teil biomedizinischer Grundlagenforschung und notwendig für die Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten. Anders als gewöhnliche Körperzellen können sie sich im Labor wesentlich öfter, zum Teil unbegrenzt teilen, sie sind »immortalisiert« – entweder durch künstliche genetische Veränderungen oder natürliche Mutationen bei der Tumorentstehung. Wer biomedizinische Laborforschung betreibt, ist es gewohnt, die Namen der jeweiligen Zelllinie Hunderte, Tausende Male auf kleine und große Gefäße zu schreiben – in den allermeisten Fällen ohne sich jemals mit ihrem Ursprung auseinandersetzen zu müssen. Auch in Sammlungen wie dem Leibniz-Institut Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) ist die Information über die Individuen, mit deren Zellen Forschende täglich umgehen, äußerst sparsam. Das DSMZ ist eine von vielen gemeinnützigen Institutionen weltweit, die Zelllinien als kostbare Forschungsressource schützen und an Forschende abgeben.

Für die Zelllinie HeLa ist im Katalog des DSMZ vermerkt, dass sie »1951 aus dem epitheloiden Zervixkarzinom einer 31-jährigen Frau« stammt, die Diagnose später zu Adenokarzinom geändert wurde und HeLa als erste kontinuierlich kultivierte menschliche Zelllinie gilt. Doch nicht nur in der Krebsforschung, auch bei medizinhistorischen Meilensteinen wie der Entwicklung des ersten Polio-Impfstoffs und von Medikamenten gegen Leukämie oder Parkinson haben HeLa-Zellen eine zentrale Rolle gespielt. Inzwischen gibt es Tausende menschliche Zelllinien, die gewinnbringend von Unternehmen verkauft, von Instituten wie dem DSMZ gesammelt und grenzüberschreitend unter der Hand kollegial getauscht werden. Doch 1951 stellte die Entwicklung der HeLa-Zelllinie eine biotechnologische Revolution dar. Gleichzeitig steht HeLa wie kaum ein anderer Fall in der Wissenschaftsgeschichte für den unethischen Umgang mit Proband*innen, strukturellen Rassismus im Forschungsbetrieb und das Profitstreben von Pharmaunternehmen. Dass der Fall so bekannt geworden ist, dafür sorgte 2010 unter anderem Rebecca Skloot, eine US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin, die mit ihren Recherchen den Kampf der Betroffenen um Entschädigung ins Rollen brachte.

Struktureller Rassismus

Hinter dem Akronym HeLa steht Henrietta Lacks, eine Afroamerikanerin, die in einer Tabakfabrik arbeitete. Im Alter von 30 Jahren erhielt die Mutter von fünf Kindern die Diagnose Gebärmutterhalskrebs und wurde im Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore, Maryland, untersucht, wo ihr – wie damals üblich – unwissentlich durch ihren Arzt, George Otto Gey, Tumorgewebe entnommen wurde. Während Lacks noch im selben Jahr starb, wuchsen ihre von Gey kultivierten Tumorzellen unendlich weiter. Familie Lacks erfuhr erst 1975 von deren Existenz. Laut Skloot gibt es »mehr als 17 000 Patente und 60 000 Forschungsergebnisse, die auf HeLa-Zellkulturen basieren«. Lacks’ Familie lebte hingegen weiterhin in Armut und ohne Krankenversicherung.

Die Entnahme und Kommerzialisierung von Zellen ohne eine informierte Einwilligung oder Gewinnbeteiligung der Betroffenen war in den 1950er Jahren keine Besonderheit. Aber wie Skloot in ihrem Buch »The Immortal Life of Henrietta Lacks« eindringlich darstellt, ist es kein Zufall, dass die Familienangehörigen von Lacks als arme Afroamerikaner*innen betroffen sind. Einerseits war Lacks Patientin im Johns Hopkins gewesen, weil sie arm und Schwarz war. Die Behandlung dort war für arme Menschen zwar kostenlos, aber nicht ohne Preis. Skloot sagt, die unausgesprochene Haltung der Ärzt*innen sei gewesen: »Die Bezahlung ist, dass wir unsere Forschung machen können.« Andererseits hätte der Familie durch ihre Identität als arme Schwarze in den USA der Zugang zu Bildung gefehlt. Als sich Wissenschaftler*innen 1975 an die Hinterbliebenen wandten, um auch von ihnen zu Forschungszwecken Zellen zu entnehmen, dachte Lacks’ Ehemann zunächst, seine Frau würde noch leben und Wissenschaftler*innen hätten sie in eine Zelle gesperrt, um an ihr zu forschen. Erst durch den Kontakt zu Skloot konnte die Familie vollständig aufarbeiten, was mit Henrietta Lacks passiert war und Gerechtigkeit einfordern.

Ethische Probleme bestehen fort

Der Weltärztebund verabschiedete 1964 die Erklärung von Helsinki, in der ethische Prinzipien wie die informierte Einwilligung im Umgang mit Proband*innen festgehalten sind. Doch ethisch problematische Forschungspraxen setzen sich auch im HeLa-Fall fort. Im Jahr 2013 stellte ein deutsches Forschungsteam des European Bioinformatics Institute in Heidelberg das komplette Genom der Zellen in eine Online-Datenbank der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH. Die Forschenden erwähnen zwar Henrietta Lacks in der Danksagung des begleitenden Fachartikels, holten jedoch nicht die Einwilligung der Familie ein, deren genetische Informationen als biologische Verwandte so ebenfalls unfreiwillig veröffentlicht wurden. Die Familie protestierte, woraufhin die NIH die Veröffentlichung zurücknahm und die HeLa-Genomsequenz Forschenden nur nach einer Fallprüfung zur Verfügung zu stellte. Dem damaligen Leiter der NIH, Francis Collins, war es jedoch wichtig, in einem Artikel in der Fachzeitschrift »Nature« festzustellen, »dass wir hier auf eine außergewöhnliche Situation reagieren und keinen Präzedenzfall für die Forschung mit bestehenden, de-identifizierten Proben schaffen«. Der Fall verdeutlicht das Problem der aktuellen wissenschaftlichen Open-Access-Kultur, wenn es um Forschung mit menschlichen Gendaten geht: Die Anforderungen vieler Journals und Forschungsförderer, alle Daten im Sinne der wissenschaftlichen Kooperation öffentlich zu machen, können in empfindlichen Datenschutzverletzungen der Proband*innen und ihrer Familien resultieren.

Seit 2021 kämpfen die Hinterbliebenen von Henrietta Lacks auch für finanzielle Gerechtigkeit. Sie verklagten das Pharmaunternehmen Thermo Fisher Scientific, da die Firma eine »bewusste Entscheidung« getroffen hätte, die Zellen zu kommerzialisieren und von einem rassistischen medizinischen System zu profitieren. Der Klage zufolge gibt es mindestens zwölf von Thermo Fisher vermarktete Produkte, die die HeLa-Zelllinie enthalten. »Die Ausbeutung von Henrietta Lacks steht stellvertretend für den leider weit verbreiteten Kampf, den Schwarze im Laufe der US-Geschichte geführt haben. Das Leiden von Schwarzen Menschen hat unzählige medizinische Fortschritte und Profite hervorgebracht, ohne gerechte Entschädigung oder Anerkennung«, heißt es in der Klage. Im August wurde bekannt, dass sich die Hinterbliebenen und das Unternehmen außergerichtlich geeinigt haben. Mittlerweile hat die Familie Klage gegen Ultragenyx Pharmaceutical eingereicht, ein weiteres Unternehmen, das mit HeLa-Zellen Gewinn gemacht hat.

Doch der Fall steht nicht nur für Kritik an Profiten aus geraubten und freiwillig gespendeten Zellen. Der medizinische Fortschritt braucht Proben von Patient*innen für die Forschung. Die Debatte um HeLa könnte ein Ende für die fragwürdige Forschungspraxis bedeuten, mittels Pseudonymisierung oder Anonymisierung alle Gedanken an das Individuum hinter der Gewebeprobe wegzuwischen.

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