Nach dem Erdbeben in Marokko: Mohammeds Haus

Der Berber Mohammed hat bei dem verheerenden Erdbeben in Marokko sein Zuhause verloren. Wie es für ihn weitergeht, ist ungewiss

  • Hammed Khamis
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Haus habe ich zusammen mit meinem Vater gebaut», sagt Mohammed verzweifelt, während er sich mit Daumen und Zeigefinger Tränen aus den Augen wischt. Sein Blick senkt sich dabei auf den roten Boden des Atlas-Gebirges, wo er bis vor Kurzem noch mit seiner Familie in seinem Haus gewohnt hat.

Der 73-Jährige sitzt nun davor. Von den einst drei Etagen ist nicht mehr viel übrig. Ein Erdbeben der Stärke 6,9 auf der Richterskala in der Nacht des 8. September 2023 um 23:11 Uhr Ortszeit im Hohen Atlasgebirge in Marokko zerstörte fast alles.

Hier sitzt Mohammed jetzt vor der Ruine, die er einst sein Zuhause nannte, auf einer kleinen Mauer neben dem Eingang. Hier hat das Schicksal am härtesten zugeschlagen. Hier, bei den Einwohnern von Al Haouz, der Region, die das Epizentrum des Bebens darstellte. Die Region Al Haouz im Herzen des Atlas-Gebirges ist eine unvergleichliche Idylle mit wundervollen Serpentinen und Aussichten bis über die Wolken. Bis das Beben kam.

Schon im Kindesalter nahm Mohammed die Angst vor dem Beben mit ins Bett. Dabei betont er, dass er nicht das Beben fürchtet, sondern dass einem Mitglied seiner Familie etwas zustoßen könnte und er damit leben müsse, seine Familie nicht beschützt haben zu können.

Dies blieb ihm immerhin erspart. Aus dem Schlaf gerissen schaffte er seine Frau, seine Kinder und deren Kinder nach draußen auf eine Fläche in der Nähe seines Hauses. Nur sein Haus konnte er leider nicht beschützen. Dasselbe gilt für sein Auto, einen silbernen Citroën Berlingo. Ein Lieferwagen, in dem er ab und an Kurierfahrten für seine Nachbarn, die für ihn wie eine Familie sind, ausführte. Der Wagen stand in der Garage, die sich im Erdgeschoss befand, das es jetzt nicht mehr gibt.

Das Haus stürzte nicht sofort ein. Als Erstes brach das Stromnetz zusammen. Dann das Haus, und mit ihm die Hoffnung, dass es noch steht, wenn es wieder hell ist.

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Mohammed hat nicht nur sein eigenes Haus einstürzen hören. Im Sekundentakt haben die Häuser in seiner Nachbarschaft nachgegeben. Die alten, meist mit rotem Lehm verstärkten Gebäude gaben der Wucht des Bebens im Minutentakt nach. Manchmal war auch der Zusammensturz eines Gebäudes auf der anderen Seite der Schlucht zu hören. Und jedes Mal, wenn etwas eingestürzt war, folgte ein Aufschrei vieler Bewohner. Und immer schrien auch Frauen und Kinder. Und niemand konnte in der Dunkelheit etwas sehen. Niemand konnte helfen oder retten oder beides.

Mohammeds Frau Khadija sitzt wortlos am anderen Ende der Mauer auf einem gelben Plastikstuhl. Sie schaut auf die Straßen herunter. Sie schaut auf ihre Heimat, die nun durch das Beben so schwer verwundet ist. Sprechen will sie nicht. Sie schäme sich für ihre Situation, warum auch immer.

Al Haouz sieht nun aus wie ein Garten, der von Maulwürfen durchpflügt wurde. Die Bewohner sind zum Großteil Imazighen, Berber. Sie leben zurückgezogen in den Bergen. Jeder, der einmal bei ihnen war, spricht von den herzlichsten Menschen im Land. Und jeder, der einmal dort war, kommt nun zurück, um zu helfen.

Unten am Kiosk hat ein junger Friseur einen provisorischen Friseursalon eröffnet. Da steht er jetzt bis in die Nacht hinter einem hölzernen Stuhl in diesem Konstrukt aus Holz und Planen, um seinen Leuten etwas Ablenkung und Beistand zu geben. Er schneidet kostenlos Haare.

Wenn eins der Kinder an der Reihe ist, gibt es hin und wieder ein Lächeln in diesem Zelt. Der Friseur lacht nicht zurück. Er wirkt abwesend.

Ein Libanese, der Urlaub in Marrakesch machte, hat sich entschlossen, seinen Urlaub abzubrechen, um in den Bergen zu helfen. Man sieht ihn eine bettlägerige Frau auf seinem Rücken das Gebirge heruntertragen.

Khalid, Mohammeds Sohn, kommt mit einem Tablett zu seinem Vater, der noch immer verzweifelt vor dem Eingang seines Hauses auf einem Vorsprung steht. Woher Khalid den Tee hat, ist ungewiss. Sicher jedoch nicht aus der Küche im Haus seiner Mutter. Denn das gibt es nicht mehr.

Mohammeds Psyche ist durch das Beben schwer beeinträchtigt. Manchmal, wenn er spricht, vergisst er, was er sagen will. Das Beben der Wände steckt noch immer in seinen Gedanken. Er habe gehört, dass die Regierung den Betroffenen finanzielle Unterstützung zugesagt hat. Ob die wirklich angekommen ist, das interessiert ihn nicht. Er will nichts von weiteren Opfern hören oder sie gar sehen.

In dieser Gegend kennt jeder jeden. Die meisten kennen sich aus Kindertagen. So wie Mohammed und sein bester Freund Youssef. Der habe ein viel schwächeres Haus als er, erzählt Mohammed. Und er geht seit Tagen nicht ans Telefon.

Während er spricht, legt er, ergriffen von Sorge, seine Handflächen aufs Gesicht und spricht ein Stoßgebet für seinen Freund. «Wir haben doch niemandem etwas getan?»

Die Konvois mit Hilfsgütern werden mittlerweile von Militärs begleitet. Und ganz oben an der Bergspitze sieht man einen Helikopter hin- und herfliegen, um ein abgeschnittenes Dorf mit Hilfsgütern zu unterstützen.

Mohammed zeigt seinen Schlafplatz, ein Provisorium aus Holz und Planen wie fast jede Unterkunft hier. In den Häusern, selbst wenn sie teilweise noch stehen, lebt niemand mehr. Viel zu groß ist die Angst vor einem Nachbeben, das den Rest in Schutt und Asche legt.

Vorbei an den Schlafplätzen geht Mohammed zu der ebenfalls provisorischen Küche, um den Dorfältesten zu begrüßen. Dieser empfängt gerade einen deutschen Unternehmer aus Marrakesch, der mit zwei Geländewagen hochgefahren ist, um Lebensmittel und Hygieneartikel zu bringen. «Wer hier lebt und jetzt nicht in den Bergen ist, hat Marokko nicht verstanden», sagt der Unternehmer.

Weltweit wird über die Katastrophe in Marokko berichtet. Durch die Berichterstattung haben viele Urlauber ihre Buchungen zurückgezogen. Die Region lebt vom Tourismus. So pumpt das Herz dieser Region nicht mehr.

Die Hilfsbereitschaft aber nimmt von Stunde zu Stunde zu. Unten in den Serpentinen arbeiten sich verschiedene Fahrzeuge, beladen mit Hilfsgütern, den Weg. Die Straßen sind nicht mehr so breit wie früher, sie sind mit herabgestürzten Felsen gesäumt. An den Kennzeichen der Fahrzeuge ist zu erkennen, dass sie aus dem ganzen Land kommen. Von Dakhla im Süden bis Tanger im Norden. Es sind viele Ausländer unter den Helfern. An ihren Autos befinden sich Plaketten mit den Buchstaben F, B, D, I oder GB.

Im ganzen Land wird mittlerweile Blut gespendet. Die marokkanische Nationalmannschaft hatte dazu aufgerufen. Aber es kamen auch Menschen als Helfer getarnt, um die Situation auszunutzen. Unter ihnen Influencer, die ein sensationelles Foto für ihre Instagram-Seite machen wollten. Andere kamen, um zu klauen. Diejenigen zu beklauen, die nun gar nichts mehr haben.

Die Menschen aus dem Atlas-Gebirge haben ihre Häuser verloren. Viele von ihnen haben Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde oder ihre Tiere verloren. Überall liegt Schutt.

Die Menschen verstehen nicht, warum es gerade sie treffen musste. Man fragt sich, warum das Erdbeben sich bei denen zugetragen hat, die ohnehin nicht viel besitzen. Bei denen, die mit wenig zufrieden sind, mit wenig leben können. Aber mit nichts?

Bei denen, die Fremde immer in ihren Häusern willkommen heißen. Denjenigen, die immer ein wenig Essen oder einen Minztee anbieten, ohne etwas dafür zu verlangen. Denjenigen, die immer ein herzliches Lächeln übrig hatten.

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