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»Weiter sehen« von Esther Kinsky: Ein Märchen in der Wirklichkeit
»Weiter sehen« von Esther Kinsky ist ein melancholischer Roman, der sich gegen den Tod des Kinos richtet
Man könnte es als Märchen lesen, Esther Kinskys neuestes Buch, »Weiter sehen«. Es würde so beginnen: Es war einmal ein Kino in einer Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wo keiner hinwill und wo die, die dort aufgewachsen sind, nur wegwollen. Ein Kino, das aber noch alles hatte, was ein Kino braucht: ein Foyer mit Kassenhäuschen, einen Saal mit Galerie und etwas mehr als 350 Kinosesseln. Sogar die großen Projektoren, die mit ihren langen Rohren, durch die die Wärme der starken Lampen nach draußen abgeleitet wurde, wie Elefanten aussahen, waren noch vorhanden und schienen nur darauf zu warten, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.
Aber man kann »Weiter sehen« einfach auch als Erzählung gegen das Vergessen lesen. Gegen das Vergessen der Kinoerfahrung, die immer mehr vom Filmkonsum am heimischen Bildschirm verdrängt wird. Es ist ein Buch, gegen den Tod des Kinos gerichtet, wobei der Tod, wenn man Kinskys andere Bücher kennt, auch hier im übertragenen Sinne weiter gefasst werden kann und sich nicht nur auf das Kino bezieht. Scheherazade hatte in »Tausendundeine Nacht« ja den eigenen Tod dadurch aufgehalten, indem sie dem Sultan eine Geschichte erzählte, die sie an der spannendsten Stelle abbrach, damit er sie nicht umbringt und auf das Ende in der nächsten Nacht gespannt ist.
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Auch Kinskys Texte sind der Versuch, die Zeit, die uns mit ihrem Vergehen unabänderlich ein Stück vom Leben nimmt, dadurch anzuhalten, dass sie von einer Erinnerung, einem vergangenen Moment erzählt und ihn damit lebendig hält. Das kann die Kindheit sein, an die sie sich besonders in ihrem Buch »Am Fluss« erinnert, wo sie der Nebenfluss der Themse an den Rhein erinnert, an dem sie aufgewachsen ist; oder es kann das Schreiben über eine vergessene Gegend sein wie die Tiefebene im Süden Ungarns, an der Grenze zu Rumänien.
Die Icherzählerin von »Weiter sehen«, hinter der sich wohl mehr oder weniger die Autorin selbst verbirgt, lernt diese Gegend durch Zufall kennen. In Norwegen, vor der dramatischen Gebirgslandschaft eines Fjords, trifft sie bei einer Wanderung in den 1990er Jahren eine Frau, die vor dem Krieg aus Jugoslawien geflohen ist. Sie erzählt ihr von ihrer Heimat, einer flachen Landschaft in Serbien, die einst zu Ungarn gehörte. Die Gegend sei so flach, dass die Leute sagen, wenn man auf einen Kürbis steigt, könne man bis nach Budapest sehen. Als due Ich-Erzählerin einige Jahre später dorthin reist, entdeckt sie in der Stadt Battonya das Kino »Mozi«, wie die ungarische Abkürzung für »Mozgokép«, Kino, lautet. Als sie mehrmals das Gebäude fasziniert aufsucht, spricht sie ein Mann an und fragt, ob sie das Kino kaufen wolle. Józsi, der örtliche Fahrradhändler, der jahrelang Vorführer im »Mozi« gewesen war, zeigt ihr das Kino. Die Protagonistin kauft es und setzt es mit seiner Hilfe wieder instand.
Aber man kann – und das wäre eine dritte Lesart – »Weiter sehen« natürlich auch als ein Buch über das Sehen lesen. »Beim Sehen«, schreibt Kinsky, »geht es um zweierlei: Was man sieht und wie man sieht. Bei der Frage nach dem Weiter Sehen soll es nur um das Wie gehen.« Für Kinsky ist im letzten Jahrhundert »kein Ort für das Wie des Sehens, für die Besinnung auf den Platz, den man sich sehend zuweist oder nimmt, so bedeutend gewesen wie das Kino als Ort, als Raum«. Es ist eine eigentümliche Erfahrung, die der Zuschauer im Kino macht, in dem er allein unter anderen, die auch allein sind, den bewegten Bildern auf der Leinwand folgt; in dem er für eineinhalb Stunden die eigene Zeit verlässt und in die Zeit des Films eintaucht.
»Weiter sehen« ist, wie auch die anderen Bücher Esther Kinskys, ein melancholisches Buch. Ein Buch, dessen literarische Qualität vor allem in der Schreibweise besteht. Sie erinnert an W. G. Sebald, was die Preisjury des W.-G.-Sebald-Preises wohl ähnlich gesehen hat, denn Kinsky wurde 2020 als Erste mit diesem Preis ausgezeichnet. Ihre Form des Erzählens – um einen weiteren Vergleich zu ziehen – erinnert an die Bilder von William Eggleston, die gerade in der Galerie C/O Berlin unter dem Titel »Mystery of the Ordinary« zu sehen waren. Im Titel, der sich auf die unspektakulären, alltäglichen Dinge bezieht, die Eggleston für seine Fotos interessiert haben, drückt sich auch die »Romantisierung der Wirklichkeit« (Novalis) aus, die gleichfalls für Esther Kinskys Erzählen wichtig ist. Romantisch nicht im Sinne von Rausch und Vergessen, sondern die Wirklichkeit wird in »Weiter sehen« zum Medium der Reflexion, in der das Alltägliche, Abseitige, Randständige beachtet und durchdacht wird. Ein Buch, das man schon allein deshalb mit Gewinn liest.
Esther Kinsky: Weiter sehen. Von der unwiderstehlichen Macht des Kinos. Suhrkamp. 200 S., geb. 24 €
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