Selbstauflösungswelle in der Nazi-Szene

Gruppen reagieren auf Verbote, Parteien können als Auffangbecken dienen

An der Tür der Praxis von Gerhard H. hängt am Mittwoch ein ausgedruckter Zettel. »Die Praxis bleibt heute wegen eines privaten Notfalls geschlossen!!!« Der Notfall, der bei dem Allgemeinmediziner und 38 anderen Beschuldigten eingetreten ist, waren Hausdurchsuchungen und eine Verbotsverfügung. Sie sollen in der Artgemeinschaft aktiv gewesen sein. Einer völkischen Gruppe, die es seit 1951 gibt und die stramm die nationalsozialistische Ideologie vertritt. Bei den Durchsuchungen wurden unter anderem Schusswaffen, Munition und Armbrüste sichergestellt. Eine Woche zuvor hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser schon die Hammerskins verboten. Nazi-Skinheads, die sich für die Elite halten und im Musikbusiness viel Geld verdienen.

In der organisierten Nazi-Szene werden beide Verbote als eindeutiger Hinweis gedeutet. Eine Verbotswelle könne anrollen, so die beinahe einhellige Befürchtung. Einige Protagonisten möchten dies als als »letztes Aufbäumen des Systems« oder »verzweifelte Schläge« von Nancy Faeser und ihrem »Antifa-Ministerium« deuten. Andere Organisationen reagieren auf die Verbote. Der Fachjournalist Felix M. Steiner sieht eine »tiefe Verunsicherung« in der Neonazi-Szene. Die Folgen seien »mehrere Selbstauflösungen von Neonazi-Organisationen, um einem Verbot zu entgehen«.

Steiner spricht Meldungen an, die seit Dienstag in extrem rechten Chats und Social-Media-Gruppen verbreitet werden. Dienstagvormittag die Meldung, die Arische Bruderschaft, die Brigade 12 und die Kameradschaft Northeim hätten sich aufgelöst, gemeldet vom jahrzehntelangen militanten Neonazi Thorsten Heise. Am Abend Nachrichten über die Selbstauflösung der Brothers of Honour, einer Nachfolgestruktur aus den verbotenen Netzwerken Blood and Honour und Combat 18 um den Dortmunder Rechtsrocker Marko Gottschalk.

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Am Mittwoch meldete dann noch das Vernetzungsprojekt Zusammenrücken sein Aus. Die Gruppe hatte es sich zur Hauptaufgabe gemacht, Neonazis nach »Mitteldeutschland« zu locken. Für den Experten Felix M. Steiner ist das keine Überraschung, sondern »eine jahrelange Strategie«. Organisationsnamen seien »ohnehin nicht von zentraler Bedeutung«. »Die Netzwerke dahinter werden weiter bestehen, unter welchem Namen und in welcher Form auch immer«, gibt Steiner eine düstere Perspektive ab.

Die Thüringer Linke-Abgeordnete Katharina König ist mit Jubelmeldungen über die Auflösung von extrem rechten Gruppen unzufrieden. »Mir ist absolut nicht verständlich, dass Äußerungen etwa von Thorsten Heise, dass sich extrem rechte Strukturen aufgelöst hätten, weiterverbreitet werden.« Es handele sich um »Scheinauflösungen«, die einzig und allein dem Ziel dienten, »sowohl das Geschäft als auch die Strukturen vor den Beeinträchtigungen eines möglichen Verbotes zu schützen«. Die Erzählungen der Neonazis weiterzutragen, berge die »hohe Gefahr«, dass »verkannt wird, dass die Strukturen definitiv weiterbestehen werden«.

Nur, wohin nach Verboten und Selbstauflösungen? Felix M. Steiner prognostiziert, dass die Mitglieder der Gruppen »wie schon bei den Vereinsverboten der 90er Jahre« in neonazistische Parteien »flüchten« werden, um dort »unter dem Schutz des Parteienrechts weiter agieren zu können«. Bestätigt wird Steiners These durch einen Beitrag auf der Seite des Neonazi-Magazins »N.S.-Heute«, das vom Dortmunder Neonazi Sascha Krolzig herausgegeben wird.

Krolzig hat Verbotserfahrung. 2012 wurden in Nordrhein-Westfalen Kameradschaften aus Aachen, Dortmund und Hamm verboten. Die Neonazis reagierten durch den Eintritt in die Partei Die Rechte und konnten weiter agieren. Krolzig ist mittlerweile in der, kürzlich in Die Heimat umbenannten, NPD aktiv. Für Heimat/NPD wird auch in dem aktuellen Beitrag geworben. Die Kernthese: Die NPD sei seit dem gescheiterten Verbotsverfahren faktisch nicht verbietbar. In ihr könne man Arbeitsgemeinschaften zu Themen wie Musik, Motorradfahren oder völkischem Glauben und Brauchtum gründen und seine bisherigen Aktivitäten fortsetzen.

Die Aktivitäten der extremen Rechten werden also möglicherweise eine kurze Phase der Neuorientierung benötigen. Dann wird sie rechtlich aber wenig daran hindern können, wieder Rechtsrockkonzerte zu organisieren, ihre Kinder völkisch-antisemitsch zu erziehen oder sich bei Sonnenwendfeiern zu vernetzen. Auf Einladungen, Rockerkutten oder in Chatgruppen muss nur irgendwo das Logo einer Neonazi-Partei kleben.

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