Milo Rau: Radikale Widersprüchlichkeit

Der Künstler und Aktivist Milo Rau hat die Leitung der Wiener Festwochen übernommen. Wer ist der »globale Realist«? Zwei Bücher geben Aufschluss

Tausendsassa Milo Rau, 2022
Tausendsassa Milo Rau, 2022

Milo Rau, der Schweizer Wahlbelgier und Kosmopolit, ist Theater- und Hörspielmacher, erarbeitet Filme und Performances. Er ist Künstler und Aktivist, Schriftsteller und Theaterleiter. Ein bodenständiger Größenwahnsinniger und ein bescheidener Realist, der auf Systemveränderungen pocht. Rau ist gut im Geschäft und ist doch keine Theaterbetriebsnudel. Sein Tatendrang scheint unerschöpflich. Seine aufwendigen Stückentwicklungen führen ihn um die halbe Welt, in den Kongo und nach Italien, nach Russland und Brasilien. Arbeitspensum und Arbeitsweise lassen auf etwas Obsessives schließen, das nicht nur sympathisch, aber all seinen Arbeiten deutlich anzumerken ist.

Neben den unzähligen Inszenierungen entstehen, wie nebenbei, zahlreiche Bücher aus seiner Feder mit Essays und Gesprächen, Manifesten und Stücktexten. Zwei Bücher, die der neue Leiter der Wiener Festwochen in diesem Jahr veröffentlicht hat, geben Aufschluss über die Ansprüche, die Rau an sich und seine Kunst stellt.

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»Die Rückeroberung der Zukunft« ist das eine Buch benannt, das im September erschienen ist und auf Raus Zürcher Poetikvorlesung 2022 beruht. Als »Materialist« bezeichnet er sich darin und als »linksradikaler Künstler«. Ist das bloße Attitüde? Die radikale Geste, die man sich als Intellektueller im 21. Jahrhundert gerne, weil ohne Kosten, leistet? Bei Rau steckt offenkundig mehr dahinter.

Er überschätzt den Möglichkeitsraum der Kunst keinesfalls, hadert mit deren bürgerlichem Charakter, macht dennoch die selten aufscheinenden Momente aus, in denen die Kunst über sich hinauswächst, mit Brecht gesprochen: die Welt als veränderbare zeigt und sogar tatsächlich Veränderungen zeitigt. Rau macht es sich schwer, weil er hinter dieses Ideal aber auch nicht mehr zurückfallen will.

Ganz richtig macht Rau in »Die Rückeroberung der Zukunft« das Grundübel unserer vom Postmodernismus beschädigten Zeit in einer Art »totaler Gegenwart« aus, deren Ursachen er etwa im übersteigerten Moralismus, in einem falsch verstandenen Realitätssinn und in der hemmenden Überinformiertheit sieht.

Er bleibt aber nicht bei einer Gegenwartsbeschreibung stehen, sondern ruft sein »Lob des Extremismus« aus und versucht den Leser für sein Konzept des utopischen Denkens zu gewinnen. Das Extreme in der Kunst, wie es etwa die Performance-Avantgarde der Vergangenheit à la Marina Abramović ohne wirkliche politische Adressierung propagierte, lehnt er ausdrücklich ab. Milo Rau will, dass sich die Künstler und mit ihm das Publikum wieder radikal in die Widersprüche hineinbegeben und dass eine Denkrichtung wieder neu eingeübt wird, die eine gute Zeit lang unter dem Begriff Dialektik für eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Realität stand.

Vom Allgemeinen bewegt sich Rau zum Konkreten, und im letzten Kapitel seines Essays unter der Überschrift »Die Rückeroberung der Zukunft oder« – das Unsichtbare Komitee zitierend – »Der kommende Aufstand« exemplifiziert er das Verhältnis von Theorie und Praxis, politischem Anspruch und künstlerischer Umsetzung anhand seiner Skandalisierung des in der Schweiz ausgestellten geraubten altägyptischen Leichnams der Schepenese. Umsichtig und klar argumentiert der Künstler, der den Kolonialismus aufarbeiten will, ohne über die allzu offensichtlichen identitätspolitischen Fallstricke zu stolpern. Er verharrt nicht bei einer Phänomenologie des globalen Unrechts, sondern macht die Fehler im System aus, ohne mittlerweile hohl gewordene Phrasen eines Klassenkampfes des letzten und vorletzten Jahrhunderts noch einmal zu dreschen.

»Was Theater kann« lautet der Titel des anderen Buches, das bereits im Frühjahr dieses Jahres im ambitionierten Zürcher Geparden-Verlag erschienen ist und kühn eine Laudatio auf Rau von Sibylle Berg, dessen Eröffnungsvortrag zu den Hannah-Arendt-Tagen 2018, einen anlässlich der Verleihung einer Ehrendoktorwürde an ihn durch die Universität Gent entstandenen Essay und ein opulentes Interview, geführt von dem niederländischen Theaterkritiker Marijn Lems, kompiliert.

Das Schlagwort, das in dem einen wie dem anderen Buch immer wieder fällt, lautet »globaler Realismus«. Realismus – das ist ein seit Unzeiten umkämpfter Begriff. Doch Milo Rau will sich nicht mit Kämpfen an der falschen Stelle aufhalten, sondern dort zuschlagen, wo es etwas zu gewinnen gibt. Realismus ist bei ihm, natürlich, kein Stil, sondern eine Methode. Mit Kunst zeigt er die Realität – wie sie ist, wie sie nicht ist, wie sie sein könnte.

Dass sein Realismus auch global sein muss, entspringt dem Umstand, dass Rau sein Wissen von der Welt nicht kleiner machen kann und will, als es ist. Der Spätkapitalismus agiert nicht den Stadttheatern zuliebe auf Lokalebene. Das Wissen darüber, was etwa der Schweizer Wohlstand mit dem deutschen Faschismus und dem weltweiten Neokolonialismus zu tun hat, muss dem Theaterpublikum der Gegenwart zugemutet werden.

Oft und schnell ist der Vorwurf gegenüber Rau erhoben worden, er sei ein künstlerisch ambitionierter Jetsetter zwischen den Elendsregionen dieser Welt. Rau weiß darum und pariert derlei Anschuldigungen elegant. Bei allen Zweifeln am Weltrettersyndrom muss man ihm zugutehalten, dass er mit seinen Arbeiten nie den einfachsten Weg beschreitet, Widersprüche zulässt, Gefahren eingeht und bereit ist, die Bühnenbretter für einen Augenblick zu verlassen, wenn sich die Möglichkeit auftut, konkret solidarisch zu handeln.

All das bliebe das sozial engagierte Gelaber eines Kulturmanagers, wenn Milo Rau nicht wirklich ins künstlerische und politische Handeln käme. Mit seiner Beschäftigung mit dem Völkermord in Ruanda (»Hate Radio«), dem Bürgerkrieg im Kongo (»Kongo Tribunal«), der Beschränkung der Kunstfreiheit in Russland (»Moskauer Prozesse«), dem neofeudalen Arbeitsregime, unter dem Flüchtlinge in Europa leiden (»Das Neue Evangelium«), löst Rau die eigenen Ansprüche immer wieder, und oft überraschend, ein.

Wien darf sich auf einen Intendanten der Festwochen freuen, der sein Publikum nicht schonen wird.

Milo Rau: Was Theater kann. Essays und Gespräche. Geparden-Verlag, 192 S., geb., 26 €.
Milo Rau: Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay. Rowohlt, 176 S., geb., 22 €.

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