Eine Beziehung ohne Zukunft zwischen der Türkei und Europa

Der Türkei wird seit Langem versprochen, dass sie irgendwann der EU beitreten könne

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.
In der Vergangenheit wurde Europa von vielen Menschen in der Türkei noch als wichtiger Partner in der Welt wahrgenommen. Mittlerweile steigt jedoch die Tendenz, sich allein zu genügen
In der Vergangenheit wurde Europa von vielen Menschen in der Türkei noch als wichtiger Partner in der Welt wahrgenommen. Mittlerweile steigt jedoch die Tendenz, sich allein zu genügen

Eigentlich hatten beide Seiten damit abgeschlossen und sich darauf eingestellt, dass Brüssel und Ankara nicht zueinander passen. Eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU schien vom Tisch. Doch kürzlich kam das Thema wieder auf die Tagesordnung: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte vor dem Nato-Gipfel in Vilnius im Juli, dass die Türkei Schweden in der Nato akzeptiere, wenn im Gegenzug die EU der Türkei die Arme öffne. Damit hatte niemand gerechnet: Die türkische Regierung hängt offenbar weiter an der Idee einer EU-Mitgliedschaft. Die Verknüpfung zwischen Nato und EU wurde von den Europäern sogleich als unzulässige Verknüpfung zurückgewiesen. Das Europaparlament erteilt einer Mitgliedschaft der Türkei derzeit wegen der bekannten Defizite bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit eine Absage.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa sind von einem Auf und Ab gekennzeichnet. Auf Tuchfühlung gingen die Türkei und die damals noch junge Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) schon 1959: Damals stellte die Regierung in Ankara einen Aufnahmeantrag. Das erste grundlegende Dokument der Zusammenarbeit wurde 1963 unterzeichnet: Das Assoziierungsabkommen von Ankara; Ziel war eine Zollunion, die erst am 1. Januar 1996 in Kraft trat. Es war die erste Zollunion überhaupt zwischen der EU und einem Nichtmitglied, ein Meilenstein also, der eigentlich den Weg ebnen sollte für eine Voll-Mitgliedschaft der Türkei. Daraus wurde bekanntlich bis heute nichts.

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Der EU-Gipfel 2002 in Kopenhagen brachte wieder Bewegung in die schwierigen Beziehungen: Die EU beschloss, im Dezember 2004 über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu entscheiden, sobald die Türkei die politischen Bedingungen der sogenannten Kopenhagener Kriterien erfülle. Diese schreiben vor, welche Kriterien Kandidaten für einen Beitritt zur EU erfüllen müssen. Neben wirtschaftlichen Kriterien (wettbewerbsfähige Marktwirtschaft, offene Märkte etc.) und der Fähigkeit, das EU-Recht zu übernehmen sowie den sich daraus ergebenden Verpflichtungen (Acquis communautaire) nachzukommen, stehen der Türkei in erster Linie die politischen Kriterien im Weg. Da geht es um Meinungsfreiheit, die Wahrung der Menschenrechte, institutionelle Stabilität, eine demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung sowie den Minderheitenschutz.

Im Dezember 2004 entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU, dass ab dem 3. Oktober 2005 Verhandlungen mit der Türkei über den EU-Beitritt aufgenommen werden sollten. Seit 2010 sind diese jedoch festgefahren und liegen auf Eis seit dem Putschversuch im Juli 2016 und den darauf folgenden staatlichen Repressalien gegen die vermeintlich Schuldigen und mutmaßlichen Unterstützer.

Die strukturelle und systematische Unterdrückung der kurdischen Minderheit durch den türkischen Staat gehört zu den größten Hürden für eine EU-Mitgliedschaft – so wie auch die immer weiter eingeschränkte Meinungsfreiheit, die Gängelung und Kontrolle der Medien sowie die schwach ausgeprägte Unabhängigkeit der Justiz, die regelmäßig für politische Ziele von der Regierung instrumentalisiert wird. Notorisch ist die Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg: Am 11. Juli 2022 hat der EGMR die Türkei zum zweiten Mal, nach 2019, dazu aufgefordert, den Aktivisten und Kulturförderer Osman Kavala (65) freizulassen. Ein türkisches Gericht hatte Kavala im Februar 2020 freigesprochen, aber nur wenige Stunden später erließ die Staatsanwaltschaft Istanbul einen neuen Haftbefehl – mit anderen Vorwürfen.

In der Entscheidung des EGMR vom Juli 2022 sieht Helen Duffy von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die Bestätigung der »sich immer weiter vertiefenden Krise der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei« und den »eskalierenden Gebrauch des Strafrechts für politische Zwecke«. In dieser Woche hat das Oberste Berufungsgericht das Urteil gegen Osman Kavala zu lebenslanger Haft bestätigt. Die Bestätigung des harten Urteils sei »ein ungeheuerlicher Missbrauch des Justizsystems«, schrieb Emma Sinclair-Webb, stellvertretende Direktorin von Human Rights Watch Europa und Zentralasien, auf der Plattform X (vormals Twitter).

Mitte September deutete der türkische Präsident in einer Rede an, dass sein Land die Beziehungen zur Europäischen Union abbrechen könnte. Erdoğan reagierte damit auf eine vom Europäischen Parlament (EP) am 13. September angenommene Entschließung, mit der ein Bericht der Europäischen Kommission von 2022 angenommen wurde. Darin heißt es, dass der EU-Beitrittsprozess der Türkei ohne einen »drastischen Kurswechsel« Ankaras nicht wieder aufgenommen werden könne. Erdoğan zufolge versuche die EU, »die Beziehungen zur Türkei zu kappen« und drohte: »Wenn nötig, können wir uns von der EU trennen.«

Doch Europa kann offensichtlich nicht ohne die Türkei. So machte Annalena Baerbock beim Brüsseler EU-Gipfel im Juli einen Vorstoß für einen neuen Anlauf in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei – aber in anderen Formen als der Vollmitgliedschaft. Man müsse reflektieren, wie man mit einem »nicht einfachen Nachbarn, aber einem globalen, strategisch wichtigen Akteur in unserer direkten Nachbarschaft« zusammenarbeiten werde. Baerbock zufolge liegt die von Erdoğan geforderte EU-Beitrittsperspektive »tief im Eisfach«.

Deutschland möchte die Türkei zudem weiter als Schranke gegen Geflüchtete aus Westasien behalten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich am Donnerstag für eine Erneuerung des Migrationsabkommens zwischen der EU und der Türkei ausgesprochen. »Wir brauchen ein Update der Vereinbarung der EU mit der Türkei«, sagte sie am Donnerstag dem Nachrichtenportal »t-online«.

In der Türkei selbst schwindet auch die Zustimmung zu einem EU-Beitritt. Wurde in der Vergangenheit Europa als wichtiger Partner in der Welt wahrgenommen, steigt zunehmend die Tendenz, sich allein zu genügen. Laut einer repräsentativen Umfrage mit dem Titel »Türkische Wahrnehmung der Europäischen Union«, die der German Marshall Fund im März 2022 in 27 Provinzen der Türkei unter 2180 Befragten durchgeführt hat, gelten die EU-Staaten für 33,1 Prozent zwar als bevorzugte Partner bei internationalen Fragen, 2021 waren es jedoch noch 37 Prozent. Zugenommen hat vor allem der Anteil derjenigen, die dafür plädieren, dass die Türkei lieber allein auf der Weltbühne handeln sollte. Dennoch bleibt die EU-Mitgliedschaft für eine Mehrzahl der Türkinnen und Türken ein erstrebenswertes Ziel: 58,6 Prozent glauben, dass diese positiv für die Türkei wäre (gegenüber 55,9 Prozent im Jahr 2021). Dieser Anteil ist signifikant höher in der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre: 72,8 Prozent.

Ein nicht kleiner Teil der türkischen Bevölkerung steht also hinter einem EU-Beitritt, klar ist aber auch: Die innerstaatlichen Defizite (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit) und Konflikte wie der Status des geteilten Zyperns und das Verhältnis zu Griechenland machen einen Beitritt in naher Zukunft kaum realisierbar.

Ein formelles Ende der türkischen EU-Beitrittsgespräche liege nicht im Interesse beider Seiten, glaubt Mensur Akgun, Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Kultur-Universität. »Ankara und die EU sollten, ohne den Beitrittsprozess zu beenden und die Türkei von Europa wegzureißen, eine Plattform für eine gleichberechtigte Partnerschaft für den weiteren Weg schaffen.«

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