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  • 40 Jahre »Irre« von Rainald Goetz

Ohnmacht als radikales Prinzip

Vor 40 Jahren erschien »Irre« von Rainald Goetz. Das viel diskutierte Werk verkörpert den damaligen Zustand der Gesellschaftskritik

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
Noch da: Der Intellektuelle Rainald Goetz verarbeitete in seinem Debütroman »Irre« den Wahn als Flucht vor den unaushaltbaren gesellschaftlichen Zuständen.
Noch da: Der Intellektuelle Rainald Goetz verarbeitete in seinem Debütroman »Irre« den Wahn als Flucht vor den unaushaltbaren gesellschaftlichen Zuständen.

Kaum ein gegenwärtiger Schriftsteller wird so sehr an seinem Debüt gemessen wie Rainald Goetz. Im Herbst 1983 erschien sein Roman »Irre«. Es ist bis heute das meistverkaufte Buch des Büchner-Preisträgers von 2015 und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Kritiken seiner späteren Werke sind häufig von Ambivalenz gegenüber dem Autor geprägt. Wie angepasst und staatskonform ist Goetz mittlerweile? Andere vermuten in ihm den Immer-noch-Radikalen, den ewigen (meint: langweilenden) Provokateur. Dahinter steckt jeweils der Wunsch: Wird er jemals wieder ein Buch schreiben, das so frisch, ungestüm, anti-konventionell ist wie »Irre«?

Dass Goetz so widersprüchlich rezipiert wird – entweder zu angepasst oder aber zu radikal –, ist schon in »Irre« begründet, und zwar nicht so sehr in seinem genuin literarischen Charakter und in der Geschichte, die das Buch erzählt, sondern in dessen wissenschaftlich-kritischen Aspekten. Das ist eigenartig: Seit wann wären wissenschaftlich-kritische Aspekte eine Eigenschaft von Romanen? Bei »Irre« ist das so. Dabei sollte man sich nicht von dem medizinischen Jargon, den der promovierte Mediziner Goetz überreichlich ausstellt, ablenken lassen. Die wissenschaftliche Kritik, die das Buch zunächst so stark macht, ehe sie vom Autor lustvoll kaputt geschlagen wird, besteht nicht zuletzt in der Kritik dieses Jargons.

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Irre Patienten im irren System

Zur Erinnerung: »Irre« handelt von dem jungen Mediziner Raspe, einer offensichtlich autobiographisch inspirierten Figur. In München tritt er gerade seinen ersten Job in einer psychiatrischen Anstalt an. Abends tobt sich Raspe in der Münchner Punk- und Reggae-Subkultur aus und lenkt sich mit marxistischen Teach-Ins ab. Diese Ablenkungen hat er dringend nötig, denn von Anfang an droht er an dem Job in der Klinik zu zerbrechen – an dem zynischen, gewalttätigen, bürokratisch bornierten Umgang mit den Insassen und am Schicksal der Patienten selbst, denen augenscheinlich kaum zu helfen ist. »Irre« ist dann stark, wenn Goetz die Schicksale der Patienten – es sind ausschließlich Männer – mit dem Erleben des jungen Arztes verwebt: Begegnungen, die niemals zu einem (gar gegenseitigen) Verständnis führen können.

Klärung ist nur auf einer abstrakten Ebene möglich, die keine medizinische sein kann, sondern von der aus die Medizin als Reparaturdienst an der kaputten Gesellschaft kritisiert wird. Raspe besucht die Vorträge der Marxistischen Gruppe (MG), die von ihrem Chefdenker Karl Held bestritten wurden. Das waren mehrstündige Exerzitien, die einerseits von dem plebejisch-ruppigen, bewusst mit breitem fränkischen Dialekt wetternden Held lebten, der andererseits in der Handhabung der Hegelschen Logik und der Ideologiekritik des jungen Marx geradezu virtuos war. Es war ja auch die einzige Praxis, die die MG (vor der in endlos weiter Ferne liegenden Revolution) gelten ließ: Aufklärung und Agitation. Dass Rainald Goetz sich davon faszinieren und den 2010 verstorbenen Karl Held immer wieder in seinen Büchern auftreten ließ, ist bis heute Gegenstand von Klatsch und Tratsch in linken Kreisen.

Abweichung und Konformität

Das Auftreten von Held und anderen Agitatoren der MG in »Irre« ist aber nicht nur als kuriose Anekdote zu verstehen, es benennt die theoretische Perspektive des Buchs. Die antipsychiatrische Bewegung, wie sie damals auch in München aktiv war, spielt im Buch keine Rolle und wird bloß an einer Stelle als die Verrücktheit verantwortungslos romantisierend abgewatscht. Mit der MG hat sich Goetz eine Organisation gewählt, die die Ohnmacht zum Prinzip der Radikalität erkor. Das Kapital beherrscht die Gesellschaft total und lässt sich nur intellektuell begreifen. Und der Maßstab der Intellektualität sind die Reden Karl Helds.

Daraus ergibt sich schon die Haltung der MG zum Irre-sein: Es wird verstanden als radikale Abweichung von der herrschenden Realität, die aber genau darin affirmiert wird – in den Formen des Egowahns, der Persönlichkeitsspaltung, der Dissoziation. Die Krankheitsbilder bringen zum Ausdruck: Man kann eh nichts ändern beziehungsweise »Ich will doch nur geliebt werden«. Wer sich in den Wahn flüchtet, hält diese Gesellschaft nicht mehr aus und akzeptiert sie doch, indem der Wahn nur bestimmte, von dieser Gesellschaft eingeforderte Verhaltensweisen überspitzt.

Der Protagonist teilt diese Diagnose und kokettiert sogar mit der MG-typischen Konsequenz: Unterwerfung unter die Deduktionskünste der Agitatoren als Voraussetzung für die irgendwann kommende kommunistische Revolution. Für ihn hat das eine »unmittelbar verlockende Evidenz«. Aber so wie Goetz die Geschichte des jungen Arztes abrupt enden lässt, um seinen Raspe, der den Klinik-Job gekündigt hat, einem fröhlichen Nihilismus in die Arme zu treiben, so löst sich auch die Evidenz des MG-Denkens auf. Genauer – sie reicht an eine andere Evidenz gar nicht heran: »Das sichtbare Leid, das Leiden des einzelnen Menschen«, sagt Raspe einem hier Wolfgang genannten MGler, »sei überwältigend, sei eine sinnliche Evidenz, die um Hilfe schreie, und gerade dies, die eigentliche Realität also, komme in Wolfgangs Theorien überhaupt nicht vor«.

Goetz hat die MG als Exempel einer vermeintlich einzig noch möglichen Radikalkritik gewählt, die dabei unendlich weit weg von einer realistischen Praxis ist. Diese Spannung kann nur individualistisch aufgelöst werden: Goetz bricht den sensiblen Erlebnisbericht ab und geht unvermittelt zum berühmt gewordenen popliterarischen Schlussteil über, in dem Raspe nur noch deliriert – also wirklich lallen will: »Lieber mehr Bier, täglich mehr Bier. Das brutalste, ordinärste, gröbste Gesicht wollte Raspe haben. Er wollte keine Sprache mehr kennen, außer Brocken von Dialekt. (…) Nie wieder wollte er von seinen unerträglich vielen Büchern wissen. Als Zeugen einer ganz falschen Vergangenheit, eines Lebens in der Denkwelt standen sie zimmerbeherrschend in den Regalen. Allein ihr Anblick war eine Erinnerung und damit eine Qual. An nichts wollte Raspe sich erinnern.« Auch eine Art von Schicksalsgläubigkeit.

Eigenständige Praxis der Irren

Ebenfalls 1983 erschien ein Buch, das sich wie das Komplementärstück zu »Irre« liest: »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieüberlebenden« der 1992 verstorbenen Berliner Aktivistin Tina Stöckle. Sie hatte selbst Psychiatrie-Erfahrungen gemacht und führte für ihr Buch Interviews mit zehn Überlebenden. Stöckle und ihre Mitstreiter*innen berichten davon, dass durchaus eine eigenständige Praxis möglich war: als Organisation der Irren (sie lehnten den Begriff der »psychisch Kranken« als stigmatisierend ab), ein Bündnis der gegenseitigen Solidarität und Fürsorge, das gegen die Gewalt der Ärzt*innen, gegen die Elektroschocks und (Über-)Medikamentierung, gegen institutionelle Abhängigkeiten gerichtet war.

Stöckle romantisiert an keiner Stelle, sondern beschreibt die bisweilen unüberwindlichen Schwierigkeiten der Selbstorganisation. Sie wird aber von den Irren als einzige Möglichkeit gesehen, sich dem Gewaltkomplex Klinik zu widersetzen und sich öffentlich zu artikulieren. Modern gesprochen: Die Irren-Offensive versammelte sich »identitätspolitisch« (Menschen ohne Psychiatrie-Erfahrung konnten nicht mitmachen), um sich gegenseitig zu helfen und dadurch einen Stützpunkt für Gesellschaftskritik zu schaffen. Stöckle identifiziert nicht »Irren-Offensive« und »kommunistische Revolution«, sondern dokumentiert, wie vermeintlich Unzurechnungsfähige Forderungen nach Autonomie stellten – beziehungsweise diese Autonomie direkt für sich beanspruchten –, ohne sich von wohlmeinenden Linksliberalen vereinnahmen zu lassen.

»Irre« ist dagegen ein Dokument des Versagens eines linken Intellektuellen, Goetz hat das Buch selber so angelegt: Der Ballermann-Hedonismus Raspes korrespondiert negativ zu den theoretischen Höhenflügen der MG. Dass diese Spannung literarisch brillant dargestellt ist, steht außer Frage, aber diese Darstellung lässt keinen Platz für die Autonomie der Irren. Es ist ein Buch, in dem sich Nonkonformismus und Konformismus in Gestalt eines jungen, überaus klugen und sensiblen Mannes verschränken – und somit paradigmatisch für das Gesamtwerk des Autors. Raspe ist eine Figur, in der sich nicht wenige (nicht mehr so) junge Männer, die Goetz bis heute lesen, widerspiegeln. Insgeheim hoffen sie darauf, dass er ihnen so einen Typen noch mal liefert.

Die MG war übrigens immer für einen Witz gut. So hieß es 1980 in ihrer »Marxistischen Streit- und Zeitschrift«: »So wird kein Professor der Erkenntnistheorie für geisteskrank erklärt, wenn er die Ansicht vertritt, Häuser existierten nur, weil man den Blick auf sie richtet ... . Auch wird kein Arbeiter zum Psychiater geschickt, weil er hartnäckig meint, man könne durch Leistung zu Reichtum kommen ... s. Sollte er jedoch an seinem Arbeitsplatz der Meinung des Professors anhängen und sich immerzu umdrehen, damit das Fließband verschwindet, so wäre er reif für die Klapsmühle – schließlich zeichnet sich der bürgerliche Verstand dadurch aus, sich allerlei Vorstellungen zuzulegen, warum es seine freie Absicht ist, wenn er dem Zwang nachkommt.« Dafür hat sich die Ideologiekritik doch gelohnt! Autor, so schallt es aus der Gerüchteküche, soll übrigens Rainald Goetz gewesen sein.

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