Wahlen in Polen: Wütend an die Wahlurne

Polinnen und Polen wollen kaum noch Kinder und mehr Abtreibungsrechte. Wieso und wie hängt das mit den Parlamentswahlen am 15. Oktober zusammen?

  • Katja Spigiel
  • Lesedauer: 10 Min.
Demonstrant*innen halten eine Fahne mit dem Symbol der Protestbewegung Strajk Kobiet.
Demonstrant*innen halten eine Fahne mit dem Symbol der Protestbewegung Strajk Kobiet.

Der Staat schaut Bürgerinnen in ihre Unterhosen. So lautet in polnischen Medien die derbe Beschreibung dessen, was Realität geworden ist. Nicht nur, dass Ärzt*innen dazu verpflichtet sind, Schwangerschaften in einem dafür vorhandenen Register zu erfassen. Persönliche Informationen von Patient*innen scheinen im Zweifel auch nicht sicher zu sein.

»Es ist klar zu sehen, dass es eine ärztliche Schweigepflicht in Polen nicht mehr gibt«, so die Gynäkologin Maria Kubisa im Gespräch mit »nd«. Mit aufgeregter, schneller Stimme berichtet sie vom 9. Januar dieses Jahres, als ihr etwa 6000 Akten aus 30 Jahren ärztlicher Tätigkeit weggenommen wurden. Gerade behandelte sie in ihrer Praxis in Stettin eine Patientin, weitere saßen im Wartebereich, »dann kamen sechs Polizisten und begannen, Akten von allen meinen Patientinnen in Kartons zu packen«. Schränke und Schubladen haben die Beamten der Sonderbehörde zur Korruptionsbekämpfung ausgeräumt und Notizhefte, zwei Laptops und ein Handy beschlagnahmt. Die Patientinnen im Wartezimmer mussten gehen.

Die Ärztin sei im Schock gewesen. »Die ließen mich einfach sitzen. Die Praxis war völlig leer, es war Januar, draußen dunkel, und ich saß beinahe ohnmächtig in einer Ecke und konnte nicht glauben, dass das echt war«, erinnert sie sich. Es habe sich angefühlt wie ein Überfall. Kubisa meint, dass es schlimmer gewesen sei als eine Razzia, wie man sie aus dem Fernsehen kennt, und niemand habe sie aufgeklärt. Erst bei der Anhörung der Beschwerde ihres Anwalts habe sie heraushören können, dass ihr Fall etwas mit einem beschlagnahmten Handy zu tun habe. Darauf sei eine SMS gefunden worden, in der stand, dass Kubisa bei einer Abtreibung geholfen haben soll. »Das stimmt nicht. Und es war Grund genug, um mich zu eliminieren«, sagt sie. Bislang wurde sie weder angeklagt noch befragt. Mehr noch – sie gibt an, seit der Verschärfung des polnischen Abtreibungsgesetzes 2020 keine Schwangerschaften mehr zu betreuen.

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Der Abbruch einer Schwangerschaft ist seitdem nur bei Lebensgefahr für die Mutter oder bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nach einer nachgewiesenen Vergewaltigung legal. Eine unheilbare Erkrankung des Fötus ist seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom 22. Oktober 2020 kein Grund für eine Abtreibung. Ein Großteil der Jurist*innen des Gerichts gilt als Sympathisant*innen der regierenden nationalkonservativen PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit). Die Präsidentin des Verfassungsgerichts soll den Vorsitzenden der Regierungspartei, Jarosław Kaczyński, privat gut kennen. Er verteidigte die restriktive Neuregelung zur Abtreibung: Nicht überlebensfähige Kinder könnten so nach der Geburt im Sinne der katholischen Kirche »getauft und beerdigt werden«.

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Das limitierte Abtreibungsrecht mündet nicht etwa in einer frommen Lebensweise der Bevölkerung, die das Babyglück und traditionelle Familienmodelle feiert – aktuelle Geburtenzahlen sprechen eine andere Sprache. Im ersten Halbjahr 2022 wurden laut Statistischem Zentralamt etwa 154.000 und im ersten Halbjahr 2023 etwa 140.000 Kinder geboren. Ein Abwärtstrend, der in den vergangenen 20 Jahren zur Norm wurde. Nun berichten polnische Zeitungen, dass die Zahlen den niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg erreichen. Auch im EU-Vergleich belegen die polnischen Geburtenzahlen einen der hinteren Plätze, dahinter folgen nur Italien, Spanien und Malta.

Maria Kubisa wundert das nicht. Sie sieht einen Zusammenhang mit dem Verfassungsurteil. Frauen hätten Angst, schwanger zu werden. Es häufen sich Fälle, bei denen Schwangerschaftsabbrüche gefährlich weit hinausgezögert werden. Das ist auf Ärzt*innen zurückzuführen, die rechtlich nicht für eine vorzeitige Abtreibung belangt werden wollen.

Kubisas Praxis liegt in einer Wohnsiedlung in Stettin. Dort empfängt sie Patient*innen und pflegt nach eigener Aussage ein vertrautes Verhältnis zu ihnen. Manche waren noch nicht geboren, als sich schon ihre Mütter von ihr behandeln ließen – »das ist doch eine große Freude«, sagt sie. Die Gynäkologin hat in Deutschland studiert und pendelt zwischen ihrer Praxis und dem 60 Kilometer entfernten brandenburgischen Prenzlau, wo sie im Kreiskrankenhaus arbeitet. Die Behandlung von Schwangeren sei ein kleiner Teil ihrer Arbeit gewesen, doch »wenn Embryonen nicht lebensfähig sind, kann die Fortsetzung einer Schwangerschaft sehr gefährlich, sogar tödlich sein«. Besonders diese Patient*innen bräuchten Hilfe. In Stettin weist Kubisa sie aber ab. Weil es illegal ist und weil sie glaubt, ihr Handy könne abgehört werden, sagt Kubisa ihnen nicht, dass sie für eine Behandlung nach Prenzlau kommen sollen. Dorthin müssten sie von sich aus fahren.

Auf dem Youtube-Kanal von Federa (Stiftung für Frauen und Familienplanung) erzählen Schauspieler*innen von Erfahrungen mit dem Abtreibungsgesetz. Die Videos sind schwarz-weiß, im Hintergrund eine weiße Leinwand. Weil Betroffenen das Geschehene nahegeht und sie Stigmatisierung fürchten, wollen sie nicht selbst vor die Kamera. So ist von »Maja« zu hören, die in ihrer Schwangerschaft erkrankte. Wegen des ungeborenen Kindes bekam sie keine Medikamente und ihr Zustand verschlechterte sich. Später habe Maja erfahren, dass ihr Organismus nicht stark genug sei, um das Kind auszutragen. Sie musste warten, bis der Fötus starb. Alles andere wäre aus Sicht der Ärzt*innen Mord.

Aleksandra Magryta arbeitet bei Federa und nimmt Anrufe von Personen entgegen, die um Beratung oder Hilfe bitten. Das Informieren über Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs ist nicht verboten. Im Zoom-Gespräch sagt Magryta deutlich: »Polinnen wollen keine Kinder.« Seit 2020 wurden es mehr Anrufe, und die Betroffenen seien zunehmend besorgt. Zum Beispiel wegen der Konsequenzen, die es bedeute, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Die Unterstützung des Staates für diese Familien – und insbesondere Mütter – sei sehr schwach. Viele fragten sich, ob sie der Situation gewachsen seien.

Polnische Medienportale berichten, dass nur jede zweite Frau im Alter zwischen 18 und 39 sicher ist, wählen zu gehen. Je älter die Altersgruppe, desto sicherer ist das Vorhaben der Stimmabgabe – und die ältere Generation will eher PiS wählen. Viele nehmen die Mobilisierung von jungen Frauen deswegen als wahlentscheidend wahr. So auch die Aktivistin Kasia Drelich. Sie lebt in einem Dorf in der Woiwodschaft Pommern, während des Telefonats mit »nd« ist das Rauschen der Bäume auf ihrem Grundstück zu hören. Im nächstgelegenen Ort hält man sie häufig für »zu revolutionär«, beirren lässt sie sich davon nicht. Sie plakatiert, oft alleine, das rote Blitz-Emblem des Strajk Kobiet (Allpolnischer Frauenstreik) und feministische Botschaften an öffentlichen Orten.

Drelich erzählt, dass sie kürzlich von einer vorbeigehenden Frau angesprochen wurde. Sie wirkte niedergeschlagen und habe von ihrer Tochter gesprochen, die mit 40 ungewollt schwanger geworden sei. Drelich habe der Frau versichert, dass es Wege gibt, das Kind nicht bekommen zu müssen. Dafür schien die Person nicht empfänglich – sie habe Angst, irgendwo anzurufen. Aus Sorge, die Polizei könnte mithören. Hinzu komme die Ungewissheit darüber, was passiert, sobald die Schwangerschaft registriert wird.

Drelich meint, die PiS habe dieses Klima zu verantworten. Eine dritte Amtszeit wäre eine »Gefährdung für die Demokratie«, dafür sei in den vergangenen zwei Legislaturen der Grundstein gelegt worden. Eine dritte würde das »vertiefen und verfestigen«. Für Drelich sei es selbstverständlich, sich zu engagieren. Sie hilft Kandidatinnen des linken Parteienbündnisses Lewica in ihrem Wahlkreis.

Eine davon ist Marta Zarańska. Die Verfassungsentscheidung 2020 und die Proteste des Strajk Kobiet seien für sie Schlüsselmomente. »Am Tag nach dem Urteil kam schnell der Beschluss, nach Warschau zu fahren. Es war ein ›Fahren wir? – Wir fahren!‹-Moment«, sagt die 27-Jährige.

Eine Luftaufnahme des Dmowski-Kreisverkehrs im Stadtzentrum von Warschau: Tausende strömen über den Platz, rote Bengalos leuchten, und die Straßenbahn, die sonst ohne Weiteres fährt, ist von Menschen umstellt. Zarańska erinnert sich an die Flut von Menschen: »Man musste den Weg nicht kennen, es war klar, dass wir gemeinsam gehen«, sagt sie. Szenen mit angehaltenem Verkehr, Gehupe und von Menschen, die aus Fenstern winken und rufen, blieben ihr im Gedächtnis. »Ich bin nicht mit der Auffassung einverstanden, dass die Streiks nichts bewirkt hätten. Wir sind uns über vieles bewusster geworden, und die Wut, die wir auf die Straße getragen haben, ist weiter in uns.«

Für die Politikerin seien die Geburtenzahlen nicht verwunderlich. »Aus meiner Erfahrung und der meines Umfeldes weiß ich, dass man sich nicht darüber freut, schwanger zu werden. Man ist eher erschrocken.« Zarańska erzählt von einer Freundin, die früh in ihrer Schwangerschaft Fruchtwasser verloren habe. Das Kind ist gestorben, abtreiben durfte sie aber nicht. Stattdessen wurde sie drastisch von einer Krankenschwester mit der Alternative konfrontiert: Entweder sie bekomme das tote Kind auf natürlichem Wege oder sie springe aus dem Fenster. So etwas bewirke die hohe Frustration vieler Pol*innen, die nun an die Wahlurne getragen werden müsse. Sie ist optimistisch und glaube, »dass wir Frauen auf ein gemeinsames Tor spielen«. Auch Drelich will »gar nichts anderes manifestieren«.

Auf einem Transparent, das Gosia1 von den Demonstrationen 2020 im Gedächtnis geblieben ist, stand »Strach się ruchać« (Angst vorm Ficken). Sie findet es bezeichnend. Das Gespräch über Zoom nimmt die 40-Jährige aus Berlin an. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei dem Kollektiv »Ciocia Basia« (Tante Barbara). Es will Schwangeren in Polen zu einem sicheren Zugang zur Abtreibung verhelfen und agiert von Deutschland aus.

Gosia versteht, dass die Entscheidung zum Kinderkriegen in Polen keine leichte ist. Sie spricht von dem, was sie »das große Paradox« nennt: Gerade weil die aktuelle Abtreibungsregelung so realitätsfern ist, übersieht diese, dass gar keine ärztliche Hilfe für den Abbruch nötig ist. Es gibt einen »blind spot« – das Einnehmen der Abtreibungspille im eigenen Zuhause ist nicht verboten. Der Verkauf des Medikaments gilt in Polen allerdings als Beihilfe und ist strafbar. Kaufen Betroffene die Pille von einer sicheren Quelle im Ausland, hätten sie aber nichts zu befürchten.

Gosia erzählt, dass die Organisation Women help Women täglich Hunderte Päckchen nach Polen verschicke. Unter diesem Blickpunkt sei es in Polen einfacher abzutreiben als in vielen anderen Ländern. Andererseits seien Betroffene auf entsprechende Informationen angewiesen, und das Abtreibungsthema sei trotz allem ein Tabu. Betroffene müssten zudem ehrenamtlichen NGOs im Ausland vertrauen. Da sei es doch besser, wenn sie sich auf ihre Ärzt*innen verlassen könnten. Eine Anpassung des derzeitigen Gesetzes durch eine neue Regierung könnte den »blind spot« schließen und den Zugang zur Abtreibungspille wieder erschweren. »Am besten wäre deswegen kein Gesetz« – und damit ein selbstbestimmter Zugang von Menschen zu ihrem Recht auf Abtreibung.

Viele Akten hat die Frauenärztin Kubisa inzwischen zurückerhalten. Sicher nicht alle, denn ständig suche sie nach Unterlagen und könne sie nicht finden. Digitale Akten seien noch bei der Staatsanwaltschaft. Die Ärztin ist erschrocken darüber, dass die Intimsphäre von Menschen in einer Behörde herumgereicht wird. Sie würde sich freuen, in Stettin wieder Schwangere betreuen zu können. Schließlich sei es das, was ihren Beruf so besonders macht. Vor den Wahlen ist Kubisa aber wenig zuversichtlich. Manipulationen hält sie für möglich: »Die PiS würde ihre Macht nicht einfach aufgeben.«

Lewica-Kandidatin Zarańska hofft auf ein demokratisches Wahlergebnis und ist sicher, dass viele Änderungen passieren und Reformen rückgängig gemacht werden müssten. Aleksandra Magryta von Federa spricht davon, dass Homophobie und jegliche -Ismen in der PiS-Regierungszeit normalisiert und vertieft worden seien. Der Stimme der Aktivistin Kasia Drelich ist anzuhören, dass sie der Gedanke daran, die PiS könnte erneut die parlamentarische Mehrheit gewinnen, belastet. Zögernd sagt sie: »Ich kann mir das nicht vorstellen, dabei ist mir zum Weinen zumute.« Und: »Ich müsste mich wahrscheinlich ausruhen von diesem Polen.«

Maria Kubisa würde es leichtfallen, das Land zu verlassen. Der Großteil ihres Lebens spielt sich ohnehin in Deutschland ab. Trotzdem komme es nicht infrage, dass sie einknicke und die Stettiner Praxis aufgebe. »Die Frauen brauchen mich«, ist sie überzeugt. Das Büro der PiS hat bis Redaktionsschluss nicht auf die Anfrage des »nd« reagiert.

1 Zu ihrem eigenen Schutz möchte die Aktivistin des Kollektivs anonym bleiben, ihr Name ist der Redaktion bekannt.

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