- Kultur
- »Fantômas«
Berliner Volksbühne: Passiert noch was bei René Pollesch?
Zähe Verlockungen: René Pollesch inszeniert »Fantômas« an der Berliner Volksbühne
Seit Frank Castorf seine Intendanz an der Volksbühne aufgeben musste, gilt der Posten als Schleudersitz. Der unglückliche Kurator Chris Dercon war ihn in Rekordzeit wieder los, auch Klaus Dörr ging frühzeitig. Skandale kamen hinzu, Aktivisten besetzten das Haus, zu Corona-Zeiten geriet es ins Visier von Querdenkern. Dass die Wahl des Kultursenators Klaus Lederer auf René Pollesch als neuen Intendanten fiel, ließ sich als Versuch verstehen, das Haus zu befrieden, indem man die Zeit zurückdrehte. In Polleschs Volksbühne sollte alles wieder so sein dürfen wie damals in den goldenen Zeiten.
Eine gewisse Ironie, die wohl typisch für Berlin ist, zeigte sich hier. Ausgerechnet ein alter Weggefährte Castorfs, also eines der größten Krawallmacher der jüngeren Theatergeschichte, sollte dafür sorgen, dass wieder Ruhe einkehrt. Und die legte sich in der ersten Spielzeit dann tatsächlich über das Haus. Das Programm machte vor allem mit seinen Lücken von sich reden. Die zweite Saison versöhnte punktuell die enttäuschten Zuschauer, vor allem mit Auftritten von Publikumslieblingen wie Sophie Rois oder Fabian Hinrichs. Die Marke Volksbühne hängt längst von ihnen ab, von den Schauspielerinnen und Schauspielern.
Die großen Regisseure früherer Jahre – wie Herbert Fritsch, Christoph Marthaler oder Vegard Vinge – arbeiten längst woanders. Sie finden in Polleschs Haus entweder keinen Platz mehr oder aber haben selbst kein Interesse daran, die Zeit zurückzudrehen. Prägende neue Regiepositionen sind bislang, abgesehen von der Star-Choreografin Florentina Holzinger, noch kaum zu erkennen. Und Bert Neumann, Bühnenbildner und Design-Mastermind des Hauses, starb bereits 2015. Wenn die Volksbühne an alte Zeiten anschließen will, bleibt Pollesch also nur Pollesch. Und die Spieler, die ihm die Treue halten.
In seiner ersten Inszenierung dieser Saison setzt er ganz auf große Namen. Martin Wuttke und Kathrin Angerer sind als Urgesteine vom Rosa-Luxemburg-Platz dabei, mit Benny Claessens kommt ein weiterer Star hinzu. Die jüngeren Spielerinnen Sonja Weißer und Campbell Caspary fügen sich ein in dieses Schaulaufen. »Fantômas« heißt der Theaterabend, nach dem skrupellosen Superschurken. Das französische Autorenduo Pierre Souvestre und Marcel Allain verfasste seine Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg als Fortsetzungsroman. Jeden Monat erschien ein neuer Band. Mehrere Verfilmungen schlossen sich an, darunter eine mit Louis de Funès als notorisch scheiternder Ermittler.
Der Text referiert überraschend deutlich auf den berühmten Stoff. Wenn bei Pollesch Anspielungen auf Filme oder literarische Werke im Titel stehen, muss das in der Regel nicht viel heißen. Sie sind oft nur Ausgangspunkt oder Motivlager für die Beschäftigung mit eigentlich größeren Themen. Hier aber ist der Bezug vergleichsweise stringent. Weißer und Caspary laufen in engen schwarzen Kostümen über die Bühne. Wuttke spekuliert über den Verbleib und die Pläne des genialen Gangsters, ja, die Ensemblemitglieder verdächtigen einander immer wieder, tatsächlich Fantômas zu sein.
Eine Identitätskrise deutet sich auch in den Versatzstücken der Spionageserie »The Americans« an, in der KGB-Agenten in den USA klarzukommen versuchen. Angerer und Claessens beschweren sich über das Holzgerüst, das ihnen Bühnenbildner Leonard Neumann, der Sohn Bert Neumanns, als Haus hingestellt hat. Ohne Wände würde man sie doch sofort als sowjetische Spione enttarnen! Später erwägen sie überzulaufen. Amerika sei doch letztlich gar nicht so schlimm, sie hätten dort immerhin große Schränke.
Die Seite wechseln, das ist an diesem Abend Verlockung und Angst zugleich. Nur was erwartet einen auf dieser anderen Seite? Für das Publikum ist es letztlich das Altbekannte: ein typischer Pollesch. Sein hochkarätiges Ensemble redet sich routiniert um Kopf und Kragen, die Live-Kamera verfolgt sie durch enge Räume, man wütet, staunt und jammert mit großer Ausdauer.
Das Gelingen hängt wie meist bei diesem Regisseur vom Unterhaltungswert dieses Wettlaufs mit dem eigenen Mitteilungsbedürfnis ab. Was diesen angeht, handelt es sich, Stars hin oder her, um eine der schwächeren Pollesch-Inszenierungen der letzten Jahre. Es gibt ein paar schöne Szenen, etwa wenn Angerer unvermittelt davon schwärmt, wie sie einmal mit Bob (Dylan) im Studio in Nashville einen Song aufnahm. Oder wenn Martin Wuttke minutenlang körperliche Merkmale aufzählt, an denen eine Person identifiziert werden kann. Da blitzt die Erinnerung an all die großen Momente auf, in denen Vehemenz und Humor auf dieser Bühne zusammentrafen. Über weite Strecken aber zieht der knapp dreistündige Abend einfach zäh vor den Augen vorbei.
Es bleibt so immerhin mehr als genug Gelegenheit, diese Ästhetik unabgelenkt von jeder Faszination zu würdigen. Martin Wuttkes notorisches Stottern sei hier beispielhaft genannt, diese wunderbar zerhackte Sprachmelodie, die den nächsten Satz so lange zurückhält, bis er sich in einem empörten Schrei selbst gebiert. An diesem Abend, da die ständig mit auf der Bühne stehende Souffleurin Elisabeth Zumpe einmal mehr im Dauereinsatz ist, argwöhnt man plötzlich, dass Wuttkes charakteristische Sprache etwas zu sehr auf dieser Selbstüberforderung basiert. Es mag einmal Programm gewesen sein, die Spieler mit so viel Text auszustatten, dass sie in Not geraten, in eine Gefahr, die sich auf das Publikum überträgt, das Spannung erzeugt.
Inzwischen scheint hiervon nur noch der Effekt übrig; mittlerweile zitieren sie sich nur noch eine Furcht vor dem Scheitern, die sie tatsächlich längst abgelegt haben. Die Hinweise auf Identitätskrisen im Text, auf unscharfe Grenzen zwischen dem Ich, dem Du und dem Wir bleiben nackte Behauptungen. Tatsächlich ist das Problem nicht, dass sie nicht wüssten, wer sie sind. Im Gegenteil, sie wissen es viel zu genau. Sie sind völlig in Einklang mit sich selbst, so, als könnte gar nichts mehr schiefgehen. Und es ist ja auch nichts schiefgegangen, das war ein ganz solider Theaterabend. Nur fühlte er sich wohl gerade deswegen so schmerzlich lang an.
Nächste Vorstellungen: 22.10., 5.11.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.