Wilco sind die Beatles aus Chicago

Lang lebe der Eigensinn! »Cousin«, das neue Album von Wilco

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn es so etwas wie die Beatles der Neuzeit gibt, dann ist es wohl die aus Chicago stammende Indie-Rock-Formation Wilco um Sänger, Songschreiber und Frontmann Jeff Tweedy: Ähnlich wie bei dem Liverpooler Quartett begann auch die musikalische Laufbahn von Wilco mit vergleichsweise naiver, unbeschwerter Gitarrenmusik. Die ersten beiden Longplayer »A. M.« und »Being There« erschienen Mitte der 90er Jahre und setzten ein musikalisches Ausrufezeichen. Doch zunächst blieben Wilco eine Indie-Formation unter vielen.

Das änderte sich dann spätestens mit »Yankee Hotel Foxtrott« aus dem Jahr 2001, auf dem sie den früheren Alternative-Country mit Loops, Effekten und allerlei musikalischen Experimenten – nun ja, die einen sagen: verwässerten, die anderen sagen: bereicherten. Letztere Lesart hat sich auf lange Sicht jedoch eindeutig durchgesetzt, weshalb das Album heute völlig zu Recht als epochaler Meilenstein des Indie-Rock gilt – weil es damals das so berechenbar und dadurch langweilig gewordene Genre praktisch schachmatt setzte.

Das Album entwickelte für die Band eine ähnliche Bedeutung wie etwa »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« für die Beatles, das seinerzeit ebenfalls die Gewissheiten vieler Fans gänzlich unsentimental zertrümmerte. Und damit kurzerhand die Popmusik revolutionierte.

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Der Legendenstatus von »Yankee Hotel Foxtrott« wird bis heute nicht zuletzt dadurch manifestiert, dass die Band damals auf den erbitterten Widerstand ihrer Plattenfirma Reprise Records stieß, die bemängelte, dass auf dem Album »kein Hit« enthalten sei. Doch die Band bestand auf dem Album, kaufte sich aus dem Vertrag heraus und veröffentlichte es kurzerhand selbst – im Internet.

Diese Mischung aus Eigensinn und Selbstbewusstsein ist dem Sextett bis heute eingeschrieben, was ihm eine gewisse Narrenfreiheit beschert. Über das neue Album »Cousin« sagte Tweedy kürzlich in einem Interview, es klinge wie Wilco. »Aber zugleich«, so fuhr er fort, »klingt es nicht wie irgendeine andere Wilco-Platte.« Scheint paradox, und ist es auch. Denn der Sound der Band ist derart filigran, mit Finessen und überraschenden Wendungen und Breaks bestückt, dass einen praktisch nie das Gefühl beschleicht: Nun wiederholen sie sich.

Wer verstehen will, was damit gemeint ist, höre die großartige Single »Evicted«: ein einfacher, gleichmäßig vor sich hin groovender Gitarrenpopsong, in dessen Refrain der stoische Beat plötzlich aussetzt und durch eine zweistimmige Gitarrenmelodie ersetzt wird. Ein Aha-Moment, wie er für die Band typisch ist, weil er einmal mehr unterstreicht, dass Wilco-Songs nun mal nicht vorhersehbar sind. Auch die beste KI in 100 Jahren wird daher wohl nicht in der Lage sein, einen authentischen Wilco-Song zu produzieren. Und zugleich – das ist die große Kunst dieser Kunstpopper – wirkt ihre Musik stets geschmeidig, gänzlich unangestrengt und im besten Sinne des Wortes relaxt.

Doch noch etwas wird auf »Cousin« einmal mehr offenbar: Das begnadete Gespür des Sextetts für durchaus ungewöhnliche Sounds, wodurch es die sich hartnäckig haltende dualistische Einteilung in »Songschreiber« und »Soundtüftler« ad absurdum führt: Wilco sind beides. Das ist es wohl auch, was die Band nicht zuletzt vom Gros der durchschnittlich talentierten Indie-Rockbands unterscheidet. Und was sie mit den Beatles – den legendären Klangkünstlern und begnadeten Songschreibern aus Liverpool – verbindet.

Wilco: »Cousin« (Sony Music)

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